Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
schlafen lassen. Er hatte in Wolfs Geheul eingestimmt und ihm Fellstreifen zum Fangen hingeworfen. Groß Schwanzlos war sein Rudelgefährte geworden.
Selbstverständlich war Groß Schwanzlos auch ein Wolf, das roch man ja wohl, allerdings kein gewöhnlicher. Auf dem Kopf hatte er langes dunkles Fell, alles Übrige jedoch war kahl. Dafür hatte er einen losen Überpelz, den er abstreifen konnte! Seine Schnauze war ganz flach, und der Ärmste hatte viel zu kleine, stumpfe Zähne, aber am allerseltsamsten war, dass er keinen Schwanz hatte.
Trotzdem hörte er sich genau wie ein Wolf an, wenn man darüber hinwegsah, dass er trotz aller Bemühungen die hohen Töne nicht traf. Auch hatte er eindeutig Wolfsaugen, hellgrau und leuchtend. Doch vor allem hatte er eine echte Wolfsseele.
Wolf wurde immer trauriger. Er reckte die Schnauze und heulte.
Da trug ihm der Wind einen unbekannten Geruch zu.
Es roch nicht nach Jägern und nicht nach Beute, nicht nach Baum und nicht nach Flinkem Nass oder nach Stein. Es roch nach etwas Bösem. Etwas Böses durchstreifte den Wald.
Wolf winselte angstvoll. Seinem Rudelbruder dort unten drohte Gefahr.
Mit einem Mal war alles ganz einfach. Sollte ihn der Donnerer doch strafen, davon ließ er sich nicht länger aufhalten. Groß Schwanzlos bedurfte seiner Hilfe.
Wolf sprang den Abhang hinunter und machte sich auf den Weg in den Wald.
Den Schwanz immer auf die Berge gerichtet, lief er viele Male Hell und Dunkel in die Richtung, wo sich das Heiße Helle Auge schlafen legt.
Furcht schnappte nach seinen Hinterläufen.
Er fürchtete sich vor dem Zorn der Fremdwölfe, deren Reviere er durchquerte. Wenn sie ihn erwischten, bissen sie ihm womöglich die Kehle durch.
Er fürchtete sich vor dem Grimm des Donnerers.
Aber vor allem fürchtete er um das Leben seines Rudelgefährten.
Je länger er lief, desto stärker wurde der fremde Geruch. Im Wald ging etwas um.
Ohne zu erlahmen, schlängelte sich Wolf durch das Baumdickicht und suchte nach den Schwanzlosen. Manchmal rochen ihre Rudel nach Schweinen, manchmal nach Ottern, doch das eine Rudel, das er suchte, roch nach Raben. Diesem Rudel hatte sich Groß Schwanzlos angeschlossen.
Schließlich entdeckte er es am Ufer eines zornigen Flinken Nass.
Wie erwartet blieb er unbemerkt. Auch das war eigenartig an den Schwanzlosen. Obwohl sie in vieler Hinsicht echte Wölfe waren – sie waren klug und tapfer, spielten und unterhielten sich gern und verteidigten ihre Rudelgefährten leidenschaftlich –, riechen konnten sie überhaupt nicht, und obendrein waren sie so gut wie taub. Deshalb konnte sich Wolf auch ungehindert in der Nähe ihrer Höhle herumtreiben und nach seinem Rudelgefährten Ausschau halten.
Er fand ihn nicht.
Am vergangenen Hell hatte es geregnet, und der Regen hatte viele Witterungen weggespült, aber Wolf hätte Groß Schwanzlos in jedem Fall gewittert.
Dafür witterte er den Leitwolf, der am Hellen-Tier-das-heiß-beißt hockte, wie es die Schwanzlosen mit Vorliebe taten. Neben ihm kauerte das halbwüchsige Weibchen, Groß Schwanzlos’ Rudelgefährtin. Sie redete in der fiependen Schwanzlossprache auf den Leitwolf ein. Es klang zugleich zornig und traurig.
Wolf spürte, dass sich das Weibchen um Groß Schwanzlos sorgte.
Auf und ab lief Wolf und suchte seinen Rudelgefährten. Er stieß auf einen großen kahlen Fleck Erde, der nach frischer Asche roch, und auf ein paar unbekannte, sonderbar gerade gewachsene Bäume, die voller Fische hingen. Er verweilte für einen kleinen Imbiss, ehe er dem Bau der Schwanzlosen den Rücken kehrte und seine Suche wieder im Wald fortsetzte.
Vielleicht war Groß Schwanzlos ja auf die Jagd gegangen. Bestimmt sogar. Weit weg konnte er nicht sein, denn er lief wie alle Schwanzlosen auf den Hinterbeinen, und das behinderte ihn erheblich.
Aber so gründlich Wolf auch suchte, er fand ihn nicht.
Die grausame Wahrheit traf ihn wie ein umstürzender Baum.
Groß Schwanzlos war fort.
Kapitel 8
DAMIT ER NICHT aus Versehen den Raben begegnete, hielt sich Torak abseits der Clanpfade und folgte stattdessen verborgenen Wildwechseln, die sich durchs Breitwassertal schlängelten.
Das Wild spürte bald, dass er nicht auf der Jagd war, und verlor seine Scheu. Er begegnete einem Elch, der Weidenröschen äste. Waldpferde schlugen mit den Schweifen und trabten ein Stück ins Unterholz, wo sie stehen blieben und sich die Hälse nach ihm verdrehten, bis er weitergewandert war. Zwei Bachen und ihre rundlichen,
Weitere Kostenlose Bücher