Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
neben sie. »Ich muss dir was erzählen!«, raunte er. »Ich war oben auf dem Hüterfelsen und …«
»Was wolltest du denn da?«
»Spuren suchen.«
»Komm, wir brechen auf!«, rief die Schamanin ihrer Gehilfin quer über die Lichtung zu.
»Hier im Lager treibt sich ein sonderbares Geschöpf herum«, sagte Torak hastig. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!«
Die Rabenschamanin mahnte ein zweites Mal zum Aufbruch.
»Ich muss gehen!«, entgegnete Renn, füllte den zerstoßenen Ocker in ihren Medizinbeutel und stand auf. »Wir bleiben nicht lange weg. Wenn wir wieder da sind, kannst du mir alles erzählen und die Spuren zeigen.«
Torak nickte, doch er wich ihrem Blick aus. Wenn sie wiederkam, wäre er schon fort. Er konnte ihr nicht von seinem Vorhaben erzählen, denn sie würde entweder versuchen, ihn davon abzubringen, oder darauf bestehen mitzukommen, und das durfte er nicht zulassen. Wenn Fin-Kedinn Recht hatte und ihn die Seelenesser womöglich in eine Falle locken wollten, durfte er nicht auch noch ihr Leben aufs Spiel setzen.
»Schade, dass du nicht mitkannst«, meinte Renn, und er kam sich noch schäbiger vor. Dann lief sie davon und nahm ihren Platz an der Spitze des Trauerzuges und an der Seite des Anführers ein, denn Fin-Kedinn war ihr Onkel.
Die Raben zogen davon. Torak sah ihnen lange nach. Sie würden Oslaks Leichnam ein ganzes Stück vom Lager wegtragen und ein Totengerüst errichten, ein niedriges Gebilde aus Ebereschenästen, worauf man den Verstorbenen mit dem Gesicht zum Fluss bettete. Wie die Lachse, so würden auch Oslaks Seelen auf ihrer letzten Reise stromaufwärts zu den Hohen Bergen wandern.
Man würde eine kurze Zeremonie abhalten, von dem verstorbenen Sippenmitglied Abschied nehmen und den Toten dann dem Wald überantworten. So wie sich jener zu seinen Lebzeiten von den Geschöpfen des Waldes genährt hatte, würden sich diese nun von ihm ernähren. Nach Ablauf von drei Monden würde Vedna die Knochen zusammenklauben und zur Schädelstätte der Sippe bringen. Fünf Sommer lang durfte weder sie noch sonst jemand den Namen des Verstorbenen aussprechen, so lautete das strenge Gesetz aller Sippen. Dadurch wollte man verhindern, dass die Seelen der Toten die Lebenden heimsuchten.
Torak wartete, bis der Zug außer Sichtweite war. Als der Wald auch den Letzten verschluckt hatte, wurde ihm in dem verlassenen Lager ganz unheimlich zumute. Nur die Hunde hatte man zum Bewachen der Fischvorräte dagelassen.
Torak machte sich eilig daran, seine Sachen zu packen. Er stopfte seinen spärlichen Besitz in die leichte Korbtrage: Kochleder, Medizinbeutel, Zunderbeutel, Angelhaken, Köcher und Bogen, den zusammengerollten Schlafsack, Fas in ein Stück Leder gewickeltes Messer und das Medizinhorn seiner Mutter. Als er die kleine Axt mit der Basaltklinge in den Gürtel steckte, wurde die Erinnerung daran wach, wann er zuletzt in solcher Hast seine Sachen gepackt hatte. Das war im vergangenen Herbst gewesen, als Fa im Sterben gelegen hatte.
Torak tastete nach dem Messer, das Fin-Kedinn für ihn angefertigt hatte. Es war leichter und handlicher als die Waffe seines Vaters, trotzdem war Fas Messer sein kostbarster Besitz.
Du sollst doch jetzt nicht daran denken, schalt er sich. Du musst hier verschwunden sein, wenn sie wiederkommen, und vergiss diesmal bloß nicht, Proviant mitzunehmen!
Nach dem, was Oslak zugestoßen war, mochte er keinen Lachs mehr essen. Das geräucherte Fleisch und die flachen Fladen aus klein gehacktem, getrocknetem Fisch und zerstoßenen Wacholderbeeren waren ihm zuwider, darum schnitt er sich in Thulls Hütte ein paar Streifen gedörrtes Elchfleisch vom Stützpfosten. Damit würde er bis zum Großen Wald auskommen.
Wie lange man wohl bis dorthin unterwegs war? Drei Tage? Fünf? Er war noch nie im Großen Wald gewesen und hatte bislang nur zwei seiner Bewohner von weitem gesehen: eine schweigsame Frau vom Rotwildclan mit Erdblut im Haar und ein Mädchen vom Auerochsenclan mit leidenschaftlichem Blick und lehmbeschmiertem Schädel. Keine von beiden hatte ihm seinerzeit die geringste Aufmerksamkeit geschenkt, und obwohl er Fin-Kedinn gegenüber etwas anderes behauptet hatte, nahm er nicht an, dass man ihn mit offenen Armen empfangen würde.
Als er an der Hütte des Anführers vorbeikam, wurden ihm die Folgen seines Entschlusses schlagartig klar. Er verließ die Raben, vielleicht für immer.
Erst hast du Fa verloren, dann Wolf, jetzt Oslak, Fin-Kedinn und Renn …
In der
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