Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
Hütte war es dunkel. Fin-Kedinns Schlafplatz war sauber und ordentlich, Renns dagegen ein fürchterliches Durcheinander. Ihr Schlafsack war verknüllt und mit halb fertigen Pfeilen und Federn für die Schäfte bedeckt. Sie würde schrecklich wütend sein, dass er, ohne sie zum Mitkommen aufzufordern und ohne sich zu verabschieden, verschwunden war.
Ihm kam eine Idee. Draußen vor der Hütte fand er einen flachen weißen Kiesel. Er lief zur nächstbesten Erle, bedankte sich leise bei dem Baumgeist, riss einen Streifen Rinde ab und kaute ihn durch. Dann spuckte er den mit rotem Baumblut vermischten Speichel in die hohle Hand und malte damit seine Clantätowierung auf den Stein, zwei gepunktete Linien, eine davon in der Mitte unterbrochen. Die Lücke gehörte nicht eigentlich zur Tätowierung, sondern sollte die kleine Narbe auf seiner Wange darstellen. Wenn Renn diesen Stein sah, würde sie wissen, wer ihn dorthin gelegt hatte.
Als Torak fertig war, hielt er inne. Sein Finger war rot von Erlensaft, wie letzten Herbst, als er für Wolf eine Namensgebungszeremonie abgehalten hatte. Er hatte dem Welpen die Pfoten damit beschmiert und geschimpft, als der alles wieder abgeschleckt hatte.
»Du sollst doch nicht an Wolf denken!«, rief er laut aus. »Und an die anderen auch nicht!«
Das verlassene Lager schien sich über ihn lustig zu machen. Jetzt bist du ganz allein, Torak.
Rasch schob er den Kieselstein unter Renns Schlafsack, dann lief er in die Sonne hinaus.
Der Wald war voller Vogelgesang und wunderschön, aber Torak war weh ums Herz, und er konnte sich nicht recht daran erfreuen.
Er schulterte seinen Bogen und machte sich in Richtung Osten auf den Weg.
Kapitel 7
DER KUMMER SCHIEN Wolf wie ein unsichtbarer Rudelgefährte zu begleiten.
Er vermisste Groß Schwanzlos. Er sehnte sich nach seinem seltsamen, felllosen Gesicht, seinem zittrigen Geheul, nach seinem sonderbar keuchenden, fiependen Lachen.
Schon oft hatte sich Wolf davongeschlichen, um nach ihm zu heulen. Schon oft war er im Kreis gelaufen und hatte überlegt, wie er sich verhalten sollte. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Ruf des Berges und dem Ruf seines alten Rudelgefährten.
Die anderen Wölfe, sein neues Rudel, verwirrte sein Verhalten. Du hast doch jetzt uns! Du bist noch nicht ausgewachsen, du musst noch viel lernen! Du weißt ja noch gar nicht, wie man große Beute jagt, wie willst du da ohne uns zurechtkommen? Bleib bei uns!
Es war ein vielköpfiges Rudel, dessen Mitglieder eng zusammenhielten, und anfangs hatte sich Wolf bei ihnen am Berg des Donnerers sehr wohl gefühlt. Sie spielten im Schnee übermütig Fang-den-Lemming, sprangen in Seen und erschreckten die Enten – aber die anderen Wölfe verstanden einfach nicht, was ihn umtrieb.
Das alles ging ihm durch den Kopf, als er zu seinem Lieblingsabhang lief, von wo ihm der Geruch des Waldes in die Nase stieg.
Der Wald war viele Sprünge entfernt, doch Wolf witterte neugeborene Rehkitze, ein Geruch, der ihm das Wasser in die Lefzen trieb, und würziges Baumblut, das aus einer vom Sturm geknickten Fichte sickerte. Er hörte es träge schmatzen, als ein Schwein sich in seiner Suhle wälzte, und hörte ein Otterjunges quieken, weil es vom Ast geplumpst war. Wie gern wäre er dort mit Groß Schwanzlos umhergestreift!
Aber wie sollte er je dorthin zurückkehren?
Es war nicht nur der Gedanke an sein neues Rudel, der ihn davon abhielt, es war vor allem der Donnerer. Der Donnerer würde ihn niemals fortlassen.
Der Donnerer konnte jederzeit zuschlagen, auch jetzt, da das Oben hell und klar war und nichts von seinem zornigen Hauch kündete. Er konnte Bäume entwurzeln und das Helle-Tier-das-heiß-beißt auf Bäume, Felsen und Wölfe hetzen. Er war allmächtig. Das hatte Wolf bitterer als manch anderer erfahren müssen, denn als er noch ein ganz junger Welpe gewesen war, hatte der Donnerer sein Rudel geholt.
Damals war Wolf auf einen Erkundungsausflug gegangen, und als er wiedergekommen war, gab es seinen Bau nicht mehr. Das ganze Rudel, seine Mutter, sein Vater, die anderen Gefährten, hatten nass und kalt und Ohn-Hauch im Schlamm gelegen. Um sie zu töten, hatte sich der Donnerer nicht selbst auf den Weg machen müssen. Er hatte einfach das Flinke Nass von den Bergen herabgeschickt.
Wolf war einsam und verängstigt und vor allem schrecklich hungrig gewesen. Da war Groß Schwanzlos aufgetaucht. Groß Schwanzlos hatte seine Beute mit ihm geteilt und ihn zusammengerollt auf sich
Weitere Kostenlose Bücher