Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
nicht an diesen Rat. Während er darauf wartete, dass Bale das Seil über den nächsten Griffstein warf, erspähte er in schwindelnder Höhe Asrif und darüber eine Felsspalte, aus der kreuz und quer Äste ragten. Der Adlerhorst. Aber wo waren die Adler?
Er fing den Haken erst beim zweiten Versuch und fummelte eine ganze Weile unbeholfen herum, bis er ihn an seinem Rücken befestigt hatte. Dann gab ihm Bale durch einen Ruck am Seil zu verstehen, dass er bereit war, und Torak kletterte weiter.
Die Griffsteine hielten sein Gewicht gut aus, aber die Abstände waren zu groß für ihn. Zweimal rutschte er ab. Sofort straffte sich der Gurt und bewahrte ihn vor dem Abstürzen.
Es war furchtbar heiß hier oben. Vor dem Aufstieg hatte er die Kapuzenjacke ausgezogen, trotzdem war er nach kurzer Zeit in Schweiß gebadet. Sämtliche Vorsprünge und Spalten waren mit Vogeldreck beschmiert. Der Gestank brannte ihm in den Augen und seine Hände und Füße waren im Nu grau und glitschig.
Selbst das Seil zu werfen, war schwieriger, als es bei Asrif ausgesehen hatte, aber nach ein paar Versuchen klappte es doch. Das Messer seines Vaters schlug ihm gegen die Hüfte, und der Medizinbeutel an seinem Gürtel, der das Medizinhorn seiner Mutter enthielt, war ziemlich schwer, aber beides bei sich zu haben, beruhigte ihn.
Ein paar Kleepflanzen hatten sich hier herauf verirrt und ihre rosafarbenen Blüten wiegten sich im Wind. Ein junger Alk reckte neugierig den mageren Hals. Die meisten Vögel flogen davon, wenn Torak in ihre Nähe kam, manche versuchten aber auch, ihn zu verjagen. Die Dreizehenmöwen kreischten zornig und flogen Scheinangriffe. Torak kam an einem Vorsprung vorbei, auf dem sich junge Eissturmvögel drängten, und entging nur knapp einer Ladung stinkenden Speichels.
Als er sich am nächsten Vorsprung hochzog und eben zu zweifeln anfing, ob er jemals zu Asrif gelangen würde, hockte er unversehens eine Armlänge neben ihm.
Der Robbenjunge kauerte auf allen vieren und wandte Torak den Rücken zu. Sein Gurt hatte sich heillos an einer Felsnase verfangen. Kein Wunder, dass er sich nicht selbst hatte befreien können.
Asrif wandte unbeholfen den Kopf. »Hallo, Waldjunge«, sagte er mit schiefem Grinsen. Er war ganz rot im Gesicht, entweder von dem anstrengenden Aufstieg oder weil ihm seine Lage peinlich war.
»Ich glaube, ich kann dich losmachen.« Torak schob sich seitwärts einen schmalen Spalt entlang, der von seinem Vorsprung zu Asrifs hinüberreichte.
»Pass auf die Adler auf«, warnte ihn der andere.
Torak blickte flüchtig auf – und wäre vor Schreck beinahe abgestürzt. Ganz dicht über seinem Kopf verdeckte der Adlerhorst den Himmel. Das riesige Gebilde aus mit Flechten bedeckten Ästen war mindestens so groß wie eine Hütte des Rabenclans. Die Jungen hörte man leise rufen, die Eltern ließen sich nicht blicken.
»Wo sind sie?«, fragte Torak mit gedämpfter Stimme.
»Die fliegen da oben«, war die Antwort. »Dass ich hier festsitze, haben sie begriffen, glaube ich. Mit dir ist das etwas anderes.«
Torak schluckte und drehte sich nach dem Vorsprung um, von dem er gekommen war. Sein Seil schlang sich ein Stück weiter oben um den letzten Griffstein. Wenn er fehltrat, würde es ihn auffangen. Natürlich nur wenn es nicht riss, der Gurt ihn aushielt und der Griffstein sich nicht lockerte …
Wenn, wenn, wenn, schalt er sich. Schluss damit.
Er schob sich seitwärts weiter, aber obwohl er sich fast den Arm ausrenkte, reichte er einfach nicht bis zu Asrifs Gurt hinüber.
Noch näher konnte er nicht heran, sein Seil war schon ganz straff. Er ruckte daran – das Zeichen für Bale, ein Stück nachzulassen, aber nichts geschah.
»Er kann dir nicht mehr Seil geben«, bemerkte Asrif, »er hat keins mehr.«
Torak spähte in die Tiefe, sah die emporgewandten Gesichter der beiden Robbenjungen und erkannte, dass Bale den Kopf schüttelte.
Er überlegte. Dann streifte er seinen Gurt ab und hängte ihn über den letzten Griffstein. Jetzt hielt nichts mehr seinen Fall auf, wenn er abstürzte.
»Was machst du denn da?«, zischelte Asrif entsetzt.
»Halt mir die Vögel vom Leib«, zischte Torak zurück und schob sich noch ein Stückchen näher heran.
Als er diesmal die Hand nach Asrifs Gurt ausstreckte, streifte er sie mit den Fingerspitzen.
Ein Schatten glitt über das Gestein, und Torak duckte sich, als eine Heringsmöwe mit schrillem »Kiau« auf ihn herabstieß. Asrif brüllte den Vogel an und warf einen
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