Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
lockerten sich kleinere Geröllbrocken und purzelten in den gähnenden Abgrund. Torak packte eine Pflanze dicht über der Wurzel und ruckte verbissen daran.
»Beeil dich!« , rief Asrif. »Mir gehen gleich die Steine aus!«
Endlich löste sich die Pflanze. Die bleiche, grün gesprenkelte Wurzel war kaum länger als Toraks Zeigefinger. Torak betrachtete sie einen Augenblick und wollte nicht glauben, dass etwas so Unbedeutendes sie alle vor der Krankheit bewahren konnte.
»Ich hab sie!«, rief er Asrif zu. Er steckte die Wurzel in sein Wams und das Messer in die Scheide, dann machte er sich an den Abstieg zu dem Vorsprung, an dem sein Klettergurt hing.
Unter seinem Fuß knirschte es – der Fels gab nach! Torak klammerte sich fest. »Passt auf!« , schrie er, als ein Brocken, der fast so groß wie er selbst war, in die Tiefe polterte – und seinen Gurt mitriss.
Torak hing in der Felswand und sah fassungslos zu, wie der Felsbrocken samt seinem Gurt Asrif um Haaresbreite verfehlte und in fast anmutigem Flug nur ein paar Schritt neben Detlan und Bale dumpf aufprallte und zersprang.
Das Vogelgekreisch verstummte. Außer dem eigenen Atem hörte Torak nur noch das Rieseln kleiner Steine.
Die Adler über ihm stiegen höher, denn sie hatten begriffen, dass er ihren Jungen jetzt nichts mehr anhaben konnte.
Asrif hob den Kopf und schaute zu ihm herauf. Sie wechselten einen Blick.
Beide wussten, was der Verlust von Toraks Gurt bedeutete, aber keiner mochte es aussprechen. Torak blieb nichts anderes übrig, als den langen Abstieg ungesichert anzutreten – was ihn höchstwahrscheinlich das Leben kosten würde.
Asrif befeuchtete seine Lippen. »Komm zu mir runter«, sagte er.
Torak überlegte und schüttelte den Kopf. »Da ist nicht genug Platz für uns beide.«
»Es wird schon irgendwie gehen. Wir können uns meinen Gurt ja teilen.«
»Das hält er nicht aus. Dann stürzen wir bloß beide ab.«
Asrif gab es auf. Torak hatte ja Recht.
»Nimm du die Wurzel«, befahl Torak barsch.
Asrif wollte schon widersprechen, aber Torak ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Es ist das einzig Vernünftige, das weißt du auch. Du kannst es bis nach unten schaffen. Du gibst Tenris die Wurzel und er braut den Heiltrank. Für euch und für uns.«
Es klang sehr überlegen, aber Torak spürte sein Herz wie ein ängstliches Vogeljunges flattern. Er begriff gar nicht recht, was er da sagte.
Er beugte sich so weit vor, wie es ging, machte den Arm lang und ließ die Wurzel fallen. Asrif fing sie auf und steckte sie ein. »Was hast du vor?«, fragte er.
Torak ging alle Möglichkeiten durch und war erstaunt, dass er so kühl überlegen konnte. Entweder lag es am Klippenkraut, oder ihm war immer noch nicht richtig bewusst, wie aussichtslos seine Lage eigentlich war.
Bale und Detlan standen direkt unter ihm und die Felsenkette war nicht besonders breit, dahinter lag das Meer. Vielleicht konnte er ins Wasser springen.
» Versuch doch wenigstens runterzuklettern!«, bat Asrif und sah dabei sehr jung und verängstigt aus.
»Und du hockst unter mir?«, gab Torak zurück. »Und Detlan und Bale? Wenn ich abrutsche, bringe ich euch womöglich alle drei um.«
Asrif schluckte schwer. »Aber was willst du…«
»Zieh den Kopf ein«, unterbrach ihn Torak und stürzte sich in den Abgrund.
Kapitel 27
TORAK STÜRZTE durch grünliches Wasser, durch grünliches Licht – aber er hatte gar keine Angst, war nur heilfroh, dass er nicht auf den Felsen aufgeschlagen war.
Nach der Hitze auf dem Adlerfelsen war die Eiseskälte wie ein Schlag vor die Brust, aber das spürte er kaum, denn jetzt sank er in einen Wald hinab.
Golden schimmernder, sonnengesprenkelter Tang wiegte sich im Rhythmus des Meeres. Die Wurzeln verloren sich in finsterer Tiefe und durch die wogenden Wedel flitzten silbrige Heringe hin und her wie Schwalben.
Da kam auch schon die Clanhüterin herbeigeschwommen, schoss mit einem einzigen Flossenschlag auf Torak zu und vollführte eine Drehung, um ihn mit dem Kopf nach unten eingehender zu betrachten. Mit ihren großen, runden Augen und dem bläschenbeperlten Schnurrbart sah sie so freundlich und neugierig aus, dass Torak am liebsten laut gelacht hätte.
Jetzt trug ihn die Dünung in kälteres Wasser und plötzlich verspürte er einen schmerzhaften Stich im Leib. Es ging so schnell, dass er sich weder wundern noch fürchten konnte, außerdem war der Schmerz im Nu wieder vergangen. Doch auf einmal war ihm nicht mehr kalt, sondern
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