Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
mir alles.«
Torak holte tief Luft. Es jemandem zu erzählen, tat ihm gut. Er hatte gar nicht gemerkt, wie sehr es ihn belastet hatte, das Ganze für sich zu behalten, aber die funkelnden Augen des Schamanen schüchterten ihn ein.
Als er geendet hatte, schwiegen sie beide.
Tenris strich sich mit der zitternden gesunden Hand den Bart. »Hast du so etwas schon einmal erlebt?«
»Ich … ich glaube schon.«
»Du glaubst ?«, wiederholte Tenris in ungewohnt scharfem Ton. »Was soll das heißen?«
»Als ich aus Versehen in ein Robbennetz gefallen bin. Die Fische … Aber das war bloß ganz kurz.«
»Ganz kurz? Wie lange?«
»Höchstens ein paar Herzschläge lang.«
Die grauen Augen blickten ihn so durchbohrend an, als wollten sie seine Seelen ergründen.
»Was… was ist mit mir los?«, fragte Torak stockend. »Was stimmt mit mir nicht?«
Tenris ließ sich mit der Antwort Zeit. »Mit dir … stimmt alles.« Er warf einen prüfenden Blick auf die Schlafenden, rückte näher an Torak heran und fuhr fort: »Es ist nämlich so…«, er stockte und schüttelte den Kopf.
»Was denn? Sag’s mir doch!«
Tenris seufzte. »Wie soll ich es dir bloß erklären?« Er stocherte mit einem Ast in der Glut, dass die Funken sprühten. »Alles Lebendige hat einen Geist«, sagte er schließlich. »Jäger, Gejagte, Fluss, Baum. Nicht alles kann sprechen, aber alles kann hören und denken. Aber das weißt du ja.«
Torak nickte.
»Die drei Seelen, die jedes Lebewesen besitzt – und die zusammengenommen seinen Geist ausmachen –, sind an die äußere Gestalt, an den Körper, gebunden.« Wieder stocherte er im Feuer. »Die Namensseele macht sich zwar ab und zu selbstständig, zum Beispiel wenn man krank ist oder träumt, aber sie entfernt sich nie sehr weit und kommt bald zurück.« Tenris warf den Ast weg und hielt die Hände übers Feuer, als wollte er den Flammen ein Geheimnis entlocken. »Aber alle tausend Winter wird jemand geboren, der… anders ist.«
Trotz der Wärme überlief es Torak kalt.
»Seine Seelen«, sprach Tenris weiter, »können den Körper verlassen und länger fortbleiben als bei einem Schamanen, wenn er Kranke heilt. Sie können sich weiter entfernen. « Er hielt inne. »Sie können in einen fremden Körper fahren. Wenn das geschieht, kann der Betreffende sehen, hören und fühlen wie das Geschöpf, in das seine Seelen eingezogen sind – aber er bleibt trotzdem er selbst.« Der Schamane zog die Hände zurück, drehte sich um und sah den verstörten Torak an. »So jemanden nennt man einen Seelenwanderer «, raunte er.
»Nein«, brachte Torak mühsam heraus.
Die grauen Augen blickten ihn unverwandt an.
»Nein!«, wiederholte Torak. »Das kann nicht sein. Wenn die Seelen den Körper verlassen, ist man tot! Dann wäre ich jetzt tot, so ist das nämlich!«
Tenris sah ihn verständnisvoll und mitfühlend an. »Nein, Torak. Bei einem Seelenwanderer verlassen nicht alle drei Seelen den Körper. Die Nanuak – die Weltseele – bleibt immer, wo sie hingehört. Sie verlässt den Körper erst, wenn der Tod eintritt. Nur die Namensseele und die Clanseele gehen auf Wanderschaft.«
Jetzt zitterte Torak. Vom Seelenwandern hatte er noch nie gehört und er wollte auch nichts davon hören.
Tenris packte ihn mit der gesunden Hand an der Schulter und schüttelte ihn leicht. »Ich verstehe ja, dass dir das unheimlich ist. Seelenwandern ist eines der größten Rätsel überhaupt. Alles, was wir darüber wissen, wurde von einem Schamanen an den nächsten weitergegeben, unvollständig und teilweise falsch.« Er schien abzuwägen, wie viel er Torak noch zumuten konnte. »Fest steht, dass es für den Seelenwanderer selbst anstrengend und gefährlich ist.«
Und weh tut es auch, ergänzte Torak stumm, als er an die Schmerzen und die Übelkeit dachte. Es fühlt sich an, als risse einem jemand die Gedärme heraus…
Mit einem Mal erfüllte ihn neue Zuversicht. »Es kann trotzdem nicht stimmen!«, sagte er eifrig. »Ich kann beweisen, dass ich kein Seelenwanderer bin! Als ich im Wald unterwegs war, musste ich mich vor einem wütenden Keiler auf einen Baum flüchten. Er hätte mich beinahe erwischt, ich hatte schreckliche Angst – und überhaupt nichts ist passiert! Mir wurde nicht übel, mir hat nichts wehgetan, und ich habe keinen Augenblick gewusst, was der Keiler empfindet!«
Der Robbenschamane wiegte den Kopf. »Torak, Torak, so einfach ist das nicht. Denk nach! Du kennst dich gut genug mit Schamanenkunst aus,
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