Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
um zu wissen, dass auch gewöhnliche Schamanen Hilfsmittel benutzen, wenn sie bei einer Heilzeremonie ihre Seelen ausschicken wollen. Es gibt ganz verschiedene Möglichkeiten. Der Schamane kann sich in Trance versetzen, er kann einen Trank schlucken, manchmal reicht es schon, eine Weile zu hungern oder die Luft anzuhalten. Bei einem Seelenwanderer verhält es sich genauso. Einfach nur Angst zu haben, wie du auf deinem Baum, genügt nicht, damit die Seelen den Körper verlassen.«
Torak überlegte, wann es ihm widerfahren war. Bei der Heilzeremonie war es von Saeunns Rauch gekommen. Im Robbennetz war er dem Ertrinken nahe gewesen, und als er der Clanhüterin begegnet war, auch. So weit schien alles zusammenzupassen, ob er es nun wahrhaben wollte oder nicht.
»Außerdem«, ergriff Tenris abermals das Wort, und Torak war überrascht, dass er wieder lächelte, »kannst du von Glück sagen, dass deine Seelen nicht in den Keiler übergewechselt sind. Sie hätten dessen Seelen nicht standgehalten. Womöglich wärst du den Rest deines Lebens ein Schwein geblieben.«
Torak stand auf, wankte zum Wasser und blieb dort zitternd stehen. Er wollte niemand Besonderes sein. Aber… hatte ihn sein Vater nicht aus eben diesem Grund von anderen Menschen fern gehalten? Es gibt so vieles, was ich dir noch nicht erklärt habe , hatte er gesagt, ehe er starb. Was hatte er damit gemeint?
»Es ist ein Fluch«, brachte er schließlich zähneklappernd heraus. »Ich will niemand Besonderes sein! Es ist ein Fluch!«
»Nein!« Tenris trat zu ihm. »Es ist kein Fluch, sondern eine kostbare Gabe! Vielleicht siehst du das jetzt noch anders, aber irgendwann wirst du es begreifen!«
»Niemals«, widersprach Torak.
»Jetzt hör mir mal zu!«, sagte der Schamane so eindringlich, dass seine schöne Stimme bebte, »was dir einfach so geschehen ist, ohne dass du es im Geringsten darauf angelegt hättest, damit mühen sich die klügsten Schamanen ihr ganzes Leben lang ab! Ich kannte mal einen Schamanen – und zwar einen guten –, der es sechs Winter lang ununterbrochen versucht hat. Sechs Winter lang hat er sich in Trance versetzt, nichts gegessen und Tränke geschluckt. Dann ist es ihm für ein paar Herzschläge gelungen. Der Mann konnte sein Glück kaum fassen!«
»Ich will das nicht«, wehrte Torak ab. »Ich wollte nie …«
»Das ist es doch, worum es in der Schamanenkunst geht , Torak!« Das anziehende, entstellte Gesicht glühte vor Leidenschaft. »Die Schamanenkunst erlernt man doch nicht, um seine Sippe mit ein bisschen buntem Feuer zu unterhalten! Wir Schamanen wollen viel mehr! Wir wollen wissen, was andere denken und fühlen!« Er holte Luft. »Überleg doch mal, wozu du fähig wärst, wenn du deine Begabung gezielt einsetzt! Welche Rätsel du lösen könntest! Du könntest die Sprache von Jägern und Gejagten verstehen! Du wärst so mächtig, dass …«
»Aber ich will das alles nicht!«, rief Torak so ungestüm aus, dass Bale sich im Schlaf umdrehte.
»Ich will das alles nicht«, wiederholte Torak etwas leiser. Er war verängstigt und verwirrt wie noch nie in seinem Leben. Bislang war er einfach Torak gewesen, und jetzt wollte ihm Tenris weismachen, dass er jemand anders war.
Er blickte über das kalte, wogende Meer. Er sehnte sich nach Wolf, wollte ihm alles erzählen. Aber wie sollte er sich ihm verständlich machen? Wie sollte man etwas wie Seelenwandern in der Wolfssprache beschreiben? Das störte ihn fast am meisten daran – dass er diese Erfahrung nicht mit Wolf teilen konnte.
»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte er das Meer.
Da spürte er wieder eine Hand auf der Schulter. »Was wir abgesprochen haben«, sagte der Schamane ruhig. »Ich wecke jetzt Bale und wir packen unsere Sachen. Wir bringen die Selikwurzel ins Lager, und in der Mittsommernacht – also morgen Nacht – ziehen wir beide uns damit auf die Klippe zurück, und du hilfst mir, den Trank zu brauen. Für dich hat sich nichts geändert.«
Er wirkte so unerschütterlich wie eine starke Eiche, die jedem Sturm trotzt, und Torak beruhigte sich ein wenig. »Ja«, erwiderte er, »für mich ändert sich nichts. Oder, Tenris?« Er drehte sich um und blickte den Schamanen fragend an.
»Nein«, erwiderte dieser, »gar nichts ändert sich.«
Kapitel 29
ENDLICH HATTE SICH der Hunger wieder in seinen Bau verkrochen und Wolf konnte losziehen und Weibchen Schwanzlos und Groß Schwanzlos suchen.
Aber während er sich an herrlich weichem, verwestem
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