Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
wie sonst nach einem Sturm. Schmutzig weiße Wolken kamen von den Anhöhen getrieben, Nebelzungen leckten nach dem See und dem Boot. Nebel nach einem Sturm, das hatte sie noch nie erlebt.
Eilig hastete sie die Anhöhe hoch, hinter der die kleine Bucht lag. Als sie oben war, erschrak sie. Das Meer war hinter einer gelblichen Dunstwand verschwunden, die bedrohlich näher rückte.
Da stimmt etwas nicht, dachte sie, da stimmt etwas ganz und gar nicht!
Ihr fiel ein, dass die Mittsommernacht angebrochen war. In der Mittsommernacht ist alles möglich.
Durchnässt, erschöpft und verängstigt, schlitterte und stolperte sie den grasbewachsenen Abhang hinunter und sank im groben weißen Sand in die Knie.
Alles ist möglich …
Sogar dass der Robbenschamane die Wahrheit sagt und Torak tatsächlich ein Seelenwanderer ist.
Als sie die beiden belauscht hatte, hatte sie das, was der Schamane Torak erklärt hatte, als Unsinn abgetan. Gewiss wollte der Mann ihren Freund aus irgendeinem Grund hinters Licht führen.
Auf der langen, anstrengenden Fahrt über den See hatte sie noch einmal darüber nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass es doch stimmte.
Torak war ein Seelenwanderer.
Ein Seelenwanderer.
Sie hatte schon von solchen Leuten gehört, aber nur in den alten Geschichten, die Fin-Kedinn an Winterabenden manchmal erzählte: wie Rabe lernte, sich vom Wind tragen zu lassen, vom Ersten Baum, den ersten Clans – und dem ersten Seelenwanderer.
Wie sie so, vor Kälte zitternd, im Sand kauerte, spürte sie undeutlich, dass alles damit zusammenhing, dass Torak ein Seelenwanderer war: die Tokoroth, die Krankheit, der Heiltrank. Bloß wie, war ihr ein Rätsel.
Frierend, nass und hungrig kauerte Torak auf seinem Felsen. Zwar hatte sich der Sturm urplötzlich gelegt, dafür war dichter Nebel aufgekommen, sodass er die Hand vor Augen nicht sah. Bis sich der Nebel wieder verzog, konnte es Tage dauern. Dann war es zu spät.
Ihm fiel das zusammengerollte Stück Walfleisch wieder ein, das ihm Detlan vor dem Aufbruch gegeben hatte. Es war salzverkrustet und roch muffig, und wenn er es jetzt aufaß, trat er womöglich mit leeren Händen vor die Meermutter. Er aß es trotzdem.
Danach fühlte er sich ein wenig besser. Ihm kam sogar ein Gedanke, der ihm etwas Mut machte. Er hatte die Selikwurzel Tenris abgeliefert. Wenn der Schamane damit ans Ufer gelangte, gab es noch Hoffnung …
Eine hohe Welle hätte ihn beinahe mit sich fortgerissen.
Denk lieber nach, wie du von diesem Felsen herunter- und an Land kommst, tadelte er sich.
Viele Möglichkeiten standen nicht zur Auswahl. Er würde wohl oder übel schwimmen müssen. Doch entkräftet, wie er war, würde er sich nicht lange über Wasser halten können. Er brauchte etwas, woran er sich festhalten konnte.
Boot und Paddel waren fort. Ihm waren nur die Kleider geblieben, die er auf dem Leib trug, Fas Messer und der Beutel mit dem Medizinhorn seiner Mutter. Das Horn enthielt eine kleine Menge Erdblut, die gerade mal für die Todeszeichen reichte, aber so schlimm stand es noch nicht um ihn.
Wieder brandeten Wellen an den Felsen. Torak kletterte ein Stück höher und zog die Kapuzenjacke um sich.
Die Kapuzenjacke.
Sie hatte ihn schon zuvor über Wasser gehalten, als das Boot gekentert war. Die Anfängerkanus der Robbenkinder fielen ihm ein, die einen Querbalken mit aufgeblasenen Robbendärmen an beiden Enden hatten.
Torak zog die Jacke über den Kopf, trennte die Bänder unter dem Kinn ab, zerschnitt sie und band damit einen Ärmel, die Halsöffnung und den unteren Rand zu. Die zweite Ärmelöffnung nahm er in den Mund und pustete das Gebilde auf.
Vom Pusten wurde ihm schlecht und schwindelig, aber schließlich hielt er einen wabbeligen Sack in den Händen, den er probeweise auf dem Wasser schwimmen ließ. Wenn er sich diesen Sack an den Gürtel band, konnte er sich vielleicht davon tragen lassen – zumindest würde er auf diese Weise nicht untergehen, wenn er irgendwann zum Schwimmen zu schwach war.
Ringsum kochte das Meer, der Nebel wogte. Irgendwo da draußen lag die Robbeninsel. Aber wo?
Überall nur schwarzes Wasser. Keine Vögel, kein Tang, keine Strömung, die auf eine Landzunge hindeutete. Die Sonne war nicht zu sehen, und er wusste nicht, in welche Richtung er schwimmen sollte. Womöglich schwamm er geradewegs ins offene Meer hinaus.
Leises Wolfsgeheul drang an sein Ohr.
Torak wagte nicht zu atmen.
Da war es wieder. Ein lang gezogenes Heulen, dann ein
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