Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
mit Messer und Harpune bewaffneten Mann ausgeliefert, der wild entschlossen war, ihm das Herz herauszuschneiden und es zu verspeisen.
Aber vorher wollte er noch etwas klären.
»Warum hast du das getan?«, fragte er und blickte dem Seelenesser fest in die gelben Augen. »Warum hast du meinen Vater umgebracht?«
Tenris schüttelte den Kopf. »Du bist genau wie er. Du willst auch immer wissen, warum . Warum, warum, warum.«
Er umschritt den Altar, spielte mit dem Messer und schnitt eine schmerzliche Grimasse, als er sich seinen Erinnerungen hingab. »Er hat mich hintergangen. Er war schwach. Nichtswürdig. Trotzdem glaubte er, er könnte …«
»Er war nicht schwach«, widersprach Torak.
»Was weißt du denn schon davon?«, fauchte Tenris.
»Ich bin sein Sohn.«
Tenris stand über ihn gebeugt und bleckte die schwarz verfärbten Zähne. »Und ich sein Bruder.«
Kapitel 32
RENN VERRENKTE SICH schier den Hals, aber der Nebel war zu dicht und Torak und der Schamane waren zu weit hinten. Da trat der Schamane an den Klippenrand. Sein dunkler, hagerer Umriss zeichnete sich gegen den hellen Schein der Flammen ab.
»Er hat ein Messer«, sagte sie.
»Sie sind zu weit oben«, meinte der Robbenjunge. »Wir kämen sowieso zu spät.«
»Aber wir können doch nicht einfach …«
»Siehst du nicht, dass uns das Feuer den Weg abschneidet? Kannst du etwa fliegen?«
Renn warf ihm einen skeptischen Blick zu. Obwohl er inzwischen behauptete, auf ihrer Seite zu sein, traute sie ihm immer noch nicht recht. Als sie eben antworten wollte, erscholl Wolfsgeheul.
»Was war das denn?«, wunderte sich der Robbenjunge.
»Das ist Wolf.« Renn hielt lauschend die Hand ans Ohr. »Oje, es kommt von Westen. Wieso? Wieso ist er nicht dort oben und steht Torak bei? Wenn noch nicht mal Wolf an ihn rankommt…« Sie überlegte. »Du hast Recht«, wandte sie sich dann an den Robbenjungen. »Wenn wir hinaufsteigen, kommen wir zu spät. Hol mir meinen Bogen.«
Er machte ein entgeistertes Gesicht. »Du darfst nicht auf ihn schießen! Er hat vielleicht Unrecht getan, aber …«
»Und wie sollen wir Torak sonst retten?«
»Tenris ist immer noch unser Schamane!«
»Ich will ihn genauso wenig töten wie du, Bale, aber wir müssen dringend etwas unternehmen!«
In diesem Augenblick wandte sich der Seelenesser ab und war verschwunden. Mit einem Ausruf trat Renn hastig ein paar Schritte zurück, in der Hoffnung, ihn auf diese Weise noch sehen zu können.
»Sie sind zu weit hinten«, wiederholte Bale. »Komm! Wir holen das Boot.«
»Was?«
Bale packte sie am Arm und zerrte sie mit. »Von hier unten kann man den Altar nicht sehen, dafür müssen wir ein Stück hinausrudern!«
Sie hasteten zum Lager hinunter. Bale verschwand in einer Hütte und kam mit Renns Köcher und Bogen wieder zum Vorschein. Dann schnappte er sich sein Boot, schob es ins seichte Wasser, schubste Renn in den Bug, sprang hinterher und griff nach dem Paddel. Kurz darauf schossen sie pfeilschnell durch die Wellen und Renn musste sich mit beiden Händen am Bootsrand festhalten.
Wind sprang auf, kam von Osten, vom Wald her geweht. Als Renn sich nach der Klippe umdrehte, teilte sich der Nebel, und sie erkannte den Seelenesser, der das Messer wie bei einem Schlachtopfer mit beiden Händen über den Kopf hob. Vor ihm lag eine reglose Gestalt.
»Ich sehe sie!«, rief Renn.
Bale wendete das Boot geschickt. Renn wäre über Bord gefallen, hätte er sie nicht am Wams festgehalten.
Mit bebenden Händen zog sie einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne, doch obwohl sich Bale redlich bemühte, schaukelte das Boot heftig. Aufzustehen kam nicht infrage, sie musste im Knien schießen.
Torak lag immer noch bewegungslos da. Renn kam der schreckliche Gedanke, dass es womöglich schon zu spät war.
»Wir sind viel zu weit weg«, sagte Bale leise, »auf die Entfernung kann kein Mensch treffen.«
Renn überging die Bemerkung und konzentrierte sich ganz auf ihr Ziel, wie Fin-Kedinn es sie gelehrt hatte.
Sie kniff die Augen zusammen und ließ den Pfeil los.
Der Pfeil kam in hohem Bogen angesaust und bohrte sich Tenris tief in die Hand. Der Schamane brach aufheulend in die Knie, das Messer rollte klappernd über den Felsboden.
Torak zögerte keinen Augenblick, streifte die Fußfesseln ab und schob sich mit den Fersen hoch. Seine Arme waren ganz lahm und fühlten sich taub an, aber er hob sie über den Felsvorsprung – und wälzte sich vom Altar herunter.
Tenris lag immer
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