Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
wäre.
Geh nach Norden, hatte Fa gesagt. Viele Tagesmärsche.
Torak wollte nicht noch weiter nach Norden ziehen. Dann müsste er den kleinen Teil des Waldes verlassen, in dem er sich auskannte, und unbekanntes Gebiet betreten. Aber Fa musste sich etwas dabei gedacht haben, sonst hätte er ihn nicht schwören lassen.
Torak nahm einen Ast und stocherte in der Glut.
Er wusste, dass die Hohen Berge weit im Osten lagen, noch hinter dem Großen Wald, und dass sie von Nord nach Süd eine halbkreisförmige Gipfelkette bildeten, die sich wie die Wirbelsäule eines riesigen Walfischs aus dem Wald herauswölbte. Er wusste auch, dass man sich erzählte, der Weltgeist hause auf dem nördlichsten Gipfel. Aber niemand war je auch nur in die Nähe dieses Berges gelangt, denn der Geist schlug jeden Eindringling mit heulenden Schneestürmen und tückischen Steinschlägen in die Flucht.
Obwohl Torak schon den ganzen Tag nach Norden geflohen war, befand er sich erst auf der Höhe der südlichsten Ausläufer der Hohen Berge. Er hatte keine Ahnung, wie er es in seinem Zustand so weit schaffen sollte. Er war immer noch vom Fieber geschwächt und keineswegs in der Verfassung, eine längere Wanderung anzutreten.
Dann lass es sein, dachte er. Mach nicht noch mal denselben Fehler, in Panik zu geraten und dich aus purer Dummheit beinahe selber umzubringen. Bleib noch einen Tag oder ein paar Tage hier und ruh dich aus. Zieh erst weiter, wenn du wieder bei Kräften bist.
Nach diesem Entschluss fühlte er sich etwas besser.
Er legte Holz nach und merkte zu seiner Überraschung, dass ihn der Welpe beobachtete. Sein Blick war unbeirrt und gar nicht welpenhaft, er hatte Augen wie ein ausgewachsener Wolf.
Wieder hörte Torak seinen Vater: Kein anderes Lebewesen hat solche Augen wie der Wolf – nur der Mensch. Wölfe sind unsere nächsten Verwandten, Torak, das sieht man an den Augen. Der einzige Unterschied ist die Farbe. Ihre Augen sind goldfarben, unsere grau. Aber das kann der Wolf nicht erkennen, denn in seiner Welt gibt es keine Farben, nur Silber- und Grautöne.
Torak hatte Fa gefragt, woher er das wissen wollte, aber Fa hatte nur lächelnd den Kopf geschüttelt und versprochen, es ihm später einmal zu erklären. Es gab eine Menge Dinge, die er Torak hatte später erklären wollen.
Toraks Miene verfinsterte sich und er rieb sich das Gesicht.
Der Welpe beobachtete ihn immer noch.
Man konnte bereits ahnen, wie schön er sein würde, wenn er erst ausgewachsen war: mit schmaler hellgrauer Schnauze, großen silbergrauen, schwarz geränderten Ohren, schrägen, ebenfalls schwarz umrandeten Augen.
Was für Augen… Klar und leuchtend wie Sonne auf einem Frühjahrsbach.
Plötzlich hatte Torak das verwirrende Gefühl, dass der Welpe wusste, was er dachte.
Von allen Jägern des Waldes , hörte er Fa flüstern, sind uns die Wölfe am ähnlichsten. Sie jagen im Rudel. Sie sprechen und spielen gern miteinander. Sie lieben ihre Gefährtinnen und Jungen zärtlich, und jeder einzelne Wolf fühlt sich für das Wohl des ganzen Rudels verantwortlich.
Torak setzte sich aufrecht hin. Was wollte ihm Fa damit sagen?
Dein Gefährte zeigt dir den Weg.
Sollte etwa das Wolfsjunge dieser Gefährte sein?
Torak räusperte sich und ließ sich auf alle viere nieder. Da er nicht wusste, was »Berg« in der Wolfssprache hieß, musste er sich irgendwie behelfen. Er deutete mit dem Kinn auf die Bergkette und fragte mit gedämpften, aber eindringlichen Jaul- und Winsellauten, ob der Welpe den Weg kannte.
Der junge Wolf spitzte die Ohren und sah ihn an, dann wandte er respektvoll den Blick ab, denn unter Wölfen gilt es als Drohung, sein Gegenüber zu lange anzusehen. Er erhob sich, streckte sich und wedelte träge mit dem Schwanz.
Nichts an seinem Verhalten deutete darauf hin, dass er Toraks Frage verstanden hatte. Er benahm sich wie ein ganz gewöhnlicher junger Wolf.
Oder doch nicht?
Hatte sich Torak diesen Blick nur eingebildet?
Kapitel 6
SCHON VIELE MALE war Hell auf Dunkel gefolgt, seit Groß Schwanzlos aufgetaucht war.
Zu Anfang hatte er immer nur geschlafen, aber jetzt benahm er sich schon fast wie ein richtiger Wolf. Wenn er traurig war, wurde er still, wenn er wütend war, knurrte er. Er spielte gern mit einem Fetzen Hasenfell Fangen, und wenn ihn der Welpe ansprang, ließ er sich auf den Boden fallen und gab komische Laute von sich, die offenbar seine Art zu lachen waren.
Manchmal stimmte Groß Schwanzlos auch in das Geheul des Welpen ein
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