Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
Hand.
Torak hatte die Knochen zwar blank genagt, aber für Nadeln, Angelhaken und eine Markbrühe taugten sie noch. Allerdings konnte er ohne Kochleder ohnehin keine Brühe zubereiten.
Obwohl er ahnte, dass er sich damit Probleme einhandelte, warf er dem Welpen das halbe Gerippe hin.
Der junge Wolf zermalmte es mit seinen kräftigen Kiefern, dann rollte er sich zusammen und schlief augenblicklich ein. Eine leise atmende, warme graue Fellkugel.
Torak hätte es gern genauso gemacht, aber er wusste, dass er nicht einschlafen konnte. Als die Nacht anbrach und es kalt wurde, saß er immer noch am Feuer und schaute in die Flammen. Mit etwas Fleisch im Magen und ohne Fieber konnte er endlich wieder richtig denken.
Abermals sah er die toten Pferde und den irren Blick des Bären vor sich. Er ist besessen , hatte Fa gesagt. Ein Dämon ist in ihn gefahren und macht ihn so böse.
Was genau ist eigentlich ein Dämon?, überlegte Torak. Er hatte keine Ahnung. Er wusste nur, dass Dämonen alles Lebendige hassten und dass sie manchmal aus der Anderen Welt ausbrachen, um dieser Welt Krankheit und Zerstörung zu bringen.
Je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er zwar eine ganze Menge über Jäger und Jagdwild wusste, über Luchse und Vielfraße, Auerochsen, Pferde, Rehe und Hirsche, aber kaum etwas über die anderen Geschöpfe des Waldes.
Er wusste nur, dass die Clanhüter über die Lagerplätze wachten und dass in stürmischen Nächten in den entlaubten Bäumen Geister klagten, die ihre Sippe verloren hatten und nicht wiederfinden konnten. Er wusste, dass in Flüssen und Felsen das Verborgene Volk hauste, so wie Menschen in Hütten wohnten, und dass dessen Angehörige von vorn wunderschön aussahen, wenn sie sich aber umdrehten, morschen, hohlen Bäumen glichen.
Und dann gab es noch den Weltgeist, der Regen, Schnee und Jagdglück sandte und über den Torak am allerwenigsten wusste. Dafür war er viel zu fern – ein unvorstellbar mächtiger Geist, der weit weg auf seinem Berg wohnte, ein Geist, den noch nie jemand gesehen hatte, von dem es aber hieß, er erscheine sommers als ein Mann mit Hirschgeweih und winters als Frau mit Haaren aus kahlen roten Weidenruten.
Torak legte die Stirn auf die Knie. Der Schwur, den er Fa geleistet hatte, lastete auf ihm wie ein Felsbrocken.
Da sprang der Welpe plötzlich knurrend auf.
Torak war im Nu auf den Beinen.
Der Welpe heftete den Blick auf einen Punkt außerhalb des Feuerscheins, spitzte die Ohren und sträubte das Nackenfell. Dann flitzte er los und verschwand in der Nacht.
Torak stand ganz still und umklammerte das Messer seines Vaters. Er spürte, wie ihn die Bäume beobachteten, hörte sie miteinander flüstern.
Ein Rotkehlchen sang ganz in der Nähe sein wehmütiges Nachtlied. Dann war der Welpe wieder da. Sein Fell war glatt, er knurrte nicht mehr und grinste leise.
Torak nahm die Hand vom Messer. Was immer dort gewesen war, es hatte sich entweder verzogen oder stellte keine Bedrohung dar. Hätte es sich um den Bären gehandelt, hätte das Rotkehlchen nicht gesungen, das stand fest.
Er setzte sich wieder hin.
Bis zum nächsten Mond musst du den Berg des Weltgeistes gefunden haben, rief er sich ins Gedächtnis. So hatte es ihm Fa aufgetragen. Du weißt, wenn das rote Auge am höchsten steht… sind die Dämonen am mächtigsten.
Ja, das weiß ich, dachte Torak. Ich weiß über das rote Auge Bescheid. Ich habe es schon oft gesehen.
Jeden Herbst erscheint der Große Auerochse – der mächtigste Dämon der Anderen Welt – am Nachthimmel. Erst hält er den Kopf noch gesenkt und wühlt mit den Hufen die Erde auf, sodass man nur die schimmernde Kuppe seiner Schulter sieht. Doch je näher der Winter kommt, desto höher hebt er den Kopf und desto stärker wird er. Dann erkennt man seine funkelnden Hörner und sein blutunterlaufenes rotes Auge, den roten Winterstern.
Im Mond der Roten Weiden hat er schließlich seinen höchsten Stand und das Böse ist am mächtigsten. Dann kommt die Zeit, da die Dämonen umgehen. Dann ist der Bär unbesiegbar.
Torak spähte durch die Zweige und sah den kalten Glanz der Sterne. Über dem fernen Schattenriss der Hohen Berge im Osten entdeckte er die Sternenschulter des Großen Auerochsen.
Der Mond der Röhrenden Hirsche neigte sich dem Ende zu. Im nächsten Mond, dem Schwarzdornmond, erschien dann das rote Auge, und der Bär würde immer mächtiger, bis er schließlich im Mond der Roten Weiden unbesiegbar
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