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Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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sich in den Bock hineinzuversetzen, vorauszusehen, wohin er sich wenden würde.
    Wenn du ein Wild verfolgst, musst du es so gut kennen wie deinen eigenen Bruder. Du musst wissen, was es frisst und wo und wann, wo es sich ausruht, wie es sich bewegt. Fa hatte Torak viel gelehrt. Er wusste, wie man einer Spur folgt. Er wusste, dass man oft stehen bleiben und lauschen muss, dass man alles in sich aufnehmen muss, was einem der Wald erzählt …
    Jetzt zum Beispiel wusste er, dass der Bock allmählich müde wurde. Am Morgen waren seine kleinen Hufabdrücke noch tief und die Zehen gespreizt gewesen, woraus man schließen konnte, dass er galoppiert war. Inzwischen waren die Abdrücke flacher und die Zehen dichter zusammen, was bedeutete, dass er langsamer lief.
    Außerdem musste er hungrig sein, weil er nicht zum Äsen gekommen war, und auch durstig, denn er war im Schutz des Dickichts geblieben, wo es kein Wasser gab.
    Torak hielt nach Anzeichen Ausschau, dass irgendwo ein Bach floss. Etwa dreißig Schritt westlich des Wegs erspähte er hinter den Haselnussbüschen eine Gruppe Erlen. Erlen wachsen nur am Wasser. Bestimmt wollte der Bock dorthin.
    Geräuschlos bewegten sich Junge und Wolf durchs Unterholz. Torak legte die Hand ans Ohr und hörte Wasser tröpfeln.
    Plötzlich erstarrte Wolf mit nach vorn gedrehten Ohren, eine Vorderpfote in der Luft.
    Ja. Da war der Bock. Hinter den Erlen. Eben senkte er den Kopf.
    Torak zielte sorgfältig.
    Der Bock hob den Kopf wieder. Wasser tropfte von seiner Schnauze.
    Torak beobachtete, wie er witterte und das helle Rückenfell aufstellte. Er hatte etwas gemerkt. Im nächsten Moment würde er davonstieben. Torak löste die Sehne.
    Der Pfeil bohrte sich dem Bock unterhalb der Schulter in die Rippen. Das Tier erzitterte anmutig, brach in die Knie und sank zu Boden.
    Torak stieß einen Freudenschrei aus und zwängte sich durchs Unterholz. Wolf überholte ihn mühelos, ließ sich dann aber ehrerbietig zurückfallen. Er lernte allmählich, Torak als Leitwolf anzuerkennen.
    Keuchend beugte sich Torak über seine Beute. Noch hob und senkte sich der Brustkorb, aber der Tod war nah. Die drei Seelen machten sich zum Aufbruch bereit.
    Torak schluckte. Jetzt musste er tun, was er seinen Vater unzählige Male hatte tun sehen. Aber für ihn war es das erste Mal und er musste alles richtig machen.
    Er kniete sich neben das Tier, streckte die Hand aus und strich sanft über das raue, schweißverklebte Wangenfell. Der Bock lag ganz still.
    »Das hast du gut gemacht«, lobte ihn Torak. Seine Stimme bebte. »Du warst klug und mutig und hast den ganzen Tag durchgehalten. Ich verspreche dir, den Pakt mit dem Weltgeist einzuhalten und dich ehrerbietig zu behandeln. Nun ziehe in Frieden.«
    Er sah zu, wie sich das große dunkle Auge trübte.
    Er war dem Bock dankbar und zugleich ungeheuer stolz. Zum ersten Mal hatte er eigenhändig ein großes Tier erlegt. Wo immer sich Fa auf seiner Todesreise gerade befinden mochte, er freute sich ganz gewiss darüber.
    Torak drehte sich nach Wolf um, legte den Kopf schief, zog die Nase kraus und bleckte wölfisch grinsend die Zähne. Gut gemacht, danke.
    Wolf sprang an ihm hoch und hätte ihn beinahe umgeworfen. Torak lachte und gab ihm eine Hand voll Brombeeren aus seinem Vorratsbeutel. Ein Haps und sie waren weg.
    Vor sieben Tagen waren sie vom Flinkwasser aufgebrochen und nichts deutete auf die Anwesenheit des Bären hin. Keine Tatzenabdrücke, keine Haarbüschel im Dornengestrüpp, kein walderschütterndes Gebrüll.
    Trotzdem stimmte etwas nicht. Sonst hallte der Wald um diese Jahreszeit vom Röhren des brunftigen Rotwilds und vom Krachen der im Kampf um die Weibchen gegeneinander schlagenden Geweihe wider. Doch alles war still. Es schien, als entvölkerte sich der Wald allmählich, als flöhen seine Bewohner vor einer unsichtbaren Gefahr.
    Sieben Tage lang war Torak nur Vögeln und Wühlmäusen begegnet und einmal – ihm war fast das Herz stehen geblieben! – einem Trupp Jäger, drei Männern, einer Frau und einem Hund. Zum Glück war es ihm gelungen, sich unbemerkt davonzumachen. Geh anderen aus dem Weg , hatte Fa gesagt. Wenn sie herausfinden, was du vermagst …
    Torak wusste nicht, was der Vater damit gemeint hatte, aber er hatte bestimmt seine Gründe. Torak hatte sich immer von anderen Menschen fern gehalten, er wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Außerdem hatte er jetzt ja Wolf. Von Tag zu Tag verstanden sie sich besser.
    Torak hatte inzwischen

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