Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
und sie sangen vereint ihr Lied in den Wald hinaus. Sein Geheul war misstönend und nicht besonders melodisch, dafür jedoch ausgesprochen gefühlvoll.
Auch sonst drückte er sich ziemlich unbeholfen aus, aber man wusste, was er meinte. Er hatte keinen Schwanz und konnte weder die Ohren aufstellen noch das Fell sträuben und die ganz hohen Jaultöne traf er auch nicht, doch meistens machte er sich irgendwie verständlich.
In vielem war er wie jeder andere Wolf.
Aber nicht in allem. Der Ärmste konnte furchtbar schlecht sehen und hören, und wenn es dunkel war, hockte er sich gern hin und beobachtete das Helle-Tier-das-heißbeißt. Manchmal nahm er seine Hinterpfoten ab und einmal, es war grauenhaft!, sogar sein Fell. Am allermerkwürdigsten war, dass er endlos lange schlief. Offenbar wusste er nicht, dass Wölfe nur kurz eindösen und immer wieder aufstehen, sich strecken und einmal um sich selber drehen müssen, damit sie niemand im Schlaf überrascht.
Der Welpe tat sein Bestes, um es ihm beizubringen, stupste ihn an oder zwickte ihn ins Ohr, wenn er schlief, doch statt ihm dankbar zu sein, wurde Groß Schwanzlos bloß bitterböse. Irgendwann gab der Welpe es auf und ließ ihn schlafen, und beim nächsten Hell stand Groß Schwanzlos nach einem unsinnig langen Schlaf und mit schrecklich schlechter Laune endlich auf. Selber schuld, wenn er sich nicht von seinem Rudelgefährten wecken lassen wollte!
Heute war Groß Schwanzlos allerdings vor dem Hell und in ganz anderer Stimmung aufgewacht. Der Welpe spürte, dass er ängstlich und aufgeregt war.
Neugierig beobachtete er, wie Groß Schwanzlos den Rudelpfad einschlug, der Nass-hoch verlief. Wollte er auf die Jagd gehen?
Der Welpe sprang hinterher, dann forderte er ihn jaulend auf, stehen zu bleiben. Das war keine Jagd. Außerdem hatte Groß Schwanzlos den falschen Weg eingeschlagen.
Nicht nur, dass er dem Flinken Nass folgte, das der Welpe inzwischen mehr als alles andere auf der Welt verabscheute und fürchtete, es war der falsche Weg, weil … weil es eben nicht der richtige war. Der richtige Weg führte über den Hügel und von dort noch viele Male Hell und Dunkel weiter.
Weshalb er sich da so sicher war, wusste der Welpe nicht, aber er spürte ganz deutlich ein leises, nachdrückliches Ziehen, so wie es ihn zur Höhle zurückzog, wenn er sich zu weit davon entfernte, mit dem Unterschied, dass dieses Ziehen schwächer war, weil es von so weit weg kam.
Groß Schwanzlos lief ahnungslos weiter.
Der Welpe stieß ein leises, warnendes »Wuff!« aus, wie es seine Mutter hören ließ, wenn die Jungen in die Höhle zurückkommen sollten, und zwar sofort .
Groß Schwanzlos drehte sich um und fragte etwas in seiner Sprache. Es klang wie: »Wasissn?«
»Wuff«, machte der Welpe noch einmal, trabte zum Fuß des Hügels und blickte in die richtige Richtung. Er drehte sich nach Groß Schwanzlos um und dann wieder nach dem richtigen Weg. Hier entlang. Nicht dort.
Groß Schwanzlos wiederholte ungeduldig seine Frage. Der Welpe wartete, dass er es endlich begriff.
Groß Schwanzlos kratzte sich am Kopf und sagte noch etwas in Schwanzlossprache, dann machte er kehrt.
Torak beobachtete, wie Wolf gespannt verharrte.
Seine schwarze Nase zuckte. Torak folgte seinem Blick. Er konnte in dem Dickicht aus Haselnusssträuchern und Weidenröschen nichts erkennen, aber er wusste, dass der Bock ganz in der Nähe war, denn Wolf wusste es, und Torak verließ sich inzwischen auf Wolf.
Wolf schaute zu Torak auf und sein bernsteinfarbener Blick begegnete flüchtig dem Blick des Jungen, dann wandte er sich wieder dem Wald zu.
Torak riss den Blütenstand eines Grashalms ab und schlitzte die kleinen Ähren mit dem Daumennagel auf, sodass der Wind die leichten Samen davontrug. Gut. Sie liefen immer noch gegen den Wind, der Bock konnte sie also nicht wittern. Und bevor sie zur Jagd aufgebrochen waren, hatte sich Torak wie immer mit Holzkohle eingerieben, um seinen Eigengeruch zu überdecken.
Geräuschlos zog er einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn ein. Es war nur ein kleiner Rehbock, aber wenn es ihm gelang, ihn zu erlegen, wäre das seine erste eigene Beute. Und er brauchte dringend Fleisch. Es gab viel weniger Wild als sonst um diese Jahreszeit.
Der Welpe senkte den Kopf.
Torak duckte sich.
Beide schlichen weiter.
Schon den ganzen Tag waren sie hinter dem Bock her. Den ganzen Tag war Torak der Fährte aus abgeknabberten Ästchen und Hufabdrücken gefolgt und hatte versucht,
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