Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
Wanderer, der…«, wandte Torak ein.
Fin-Kedinn schnitt ihm das Wort ab. »Der verkrüppelte Wanderer war der Todfeind deines Vaters.«
Torak drückte sich erschrocken an den Pfosten. »Mein Vater hatte keine Feinde.«
Die Augen des Anführers funkelten gefährlich. »Dein Vater war nicht irgendein Jäger. Er war der Schamane des Wolfsclans.«
Torak vergaß zu atmen.
»Auch das hat er dir verschwiegen, nicht wahr? O ja, er war der Wolfsschamane. Und seinetwegen wütet jetzt dieses … Untier im Wald.«
»Nein«, flüsterte Torak. »Das ist nicht wahr.«
»Das hat er dir alles verschwiegen, stimmt’s?«
»Fin-Kedinn«, mischte sich Saeunn wieder ein, »er wollte seinen Sohn nur schonen…«
»Allerdings, und das ist dabei herausgekommen!«, fuhr sie der Anführer an, »ein halbwüchsiger Junge, der von nichts eine Ahnung hat. Und du willst mir erzählen, dass er der Einzige ist, der…« Kopfschüttelnd brach er ab.
Drückendes Schweigen. Fin-Kedinn holte Luft. »Jener Mann hat den Bären nur aus einem einzigen Grund erschaffen«, sagte er ruhig. »Er schuf ihn, damit er deinen Vater tötete.«
Im Osten wurde es schon hell, als es Torak endlich gelang, die Fesseln um seine Handgelenke zu durchtrennen. Er durfte keine Zeit verlieren. Fin-Kedinn und Saeunn waren eben erst ans Feuer zurückgekehrt und sogleich in eine hitzige Auseinandersetzung mit den anderen Sippenvertretern verwickelt worden. Sie konnten jederzeit einen Beschluss fassen und ihn holen kommen.
Die Fesseln um seine Knöchel durchzuschneiden, war mühsam. In seinem Kopf drehte sich alles. »Dein Vater hat dich zu einer Wölfin in die Höhle gelegt… Er war der Schamane des Wolfclans … Er wurde ermordet …«
Der Feuersteinsplitter war vom Schweiß ganz glitschig und rutschte Torak aus der Hand. Hastig hob er ihn wieder auf. Schließlich war der letzte Riemen durchtrennt. Torak bewegte die Beine und hätte beinahe aufgeschrien, so schmerzten sie vom langen Stillhalten.
Aber noch heftiger schmerzte seine Seele. Fa war ermordet worden. Von dem verkrüppelten Wanderer, der den dämonischen Bären nur zu dem Zweck erschaffen hatte, dass er Fa umbrachte …
Das war doch verrückt. Ein Irrtum.
Und doch wusste Torak im Grunde seines Herzens, dass es der Wahrheit entsprach. Wieder sah er das verzerrte Gesicht seines sterbenden Vaters vor sich. Bald kommt er mich holen, hatte er gesagt. Er hatte gewusst, was sein Feind getan hatte. Er hatte gewusst, wozu der Bär erschaffen worden war.
Die ganze Geschichte ging über Toraks Verstand. Es kam ihm vor, als ob alles, was er bisher zu wissen glaubte, nichts mehr gälte – als stünde er auf dünnem Eis und sähe zu, wie sich unter seinen Füßen blitzschnell Risse ausbreiteten.
Der brennende Schmerz in seinen Beinen brachte ihn wieder zu sich. Er rieb sich die tauben Muskeln. Die nackten Füße waren eiskalt, aber damit fand er sich ab. Er hatte nicht sehen können, wo Oslak seine Stiefel hingetan hatte.
Jetzt musste er die Hütte verlassen, ohne dass ihn jemand sah, dann zu den Haselnussbüschen am Rand der Lichtung hinüberhasten und sich irgendwie an den Wachen vorbeistehlen.
Aber wie? Man würde ihn entdecken. Er musste sich eine List einfallen lassen …
Vom anderen Ende des Lagers trug ihm die neblige Morgenluft ein jämmerliches Jaulen zu. Wo bist du? , klagte Wolf. Warum hast du mich schon wieder allein gelassen?
Torak erstarrte. Er hörte die Lagerhunde einstimmen. Er sah die am Feuer Versammelten aufspringen und nachschauen gehen, was los war. Er begriff, dass ihm Wolf zu Hilfe kam.
Er musste sich sputen. Rasch schlüpfte er aus der Hütte und schlug sich in die Büsche. Er wusste, was er zu tun hatte … und er verabscheute sich dafür.
Er musste Wolf im Stich lassen.
Kapitel 12
DIE KALTE LUFT brannte ihm in der Kehle, als er sich durch das Weidendickicht zum Fluss kämpfte, und an den spitzen Steinen riss er sich die Sohlen blutig. Er spürte es kaum.
Dank Wolf war er unbemerkt aus dem Lager entkommen, doch schon bald hallte ein tiefes, dröhnendes Tuten von der Lichtung herüber. Die Rindenhörner bliesen Alarm. Er hörte Männerstimmen und Hundegebell. Der Rabenclan nahm die Verfolgung auf.
Brombeerranken krallten sich in sein Beinleder, als er die Uferböschung hinunterschlitterte, dann stapfte er platschend ins hohe Schilf. Er stand knietief im eiskalten schwarzen Schlamm und hielt sich die Hand vor den Mund, damit ihn seine Atemwolken nicht verrieten.
Zum
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