Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
sie zum ersten Mal aus der Nähe. Noch nie war er jemandem begegnet, der so alt war. Durch das schüttere weiße Haar schimmerte der Schädel wie blank polierter Knochen und ihre Nase ähnelte einem Vogelschnabel. Das Alter hatte alle Freundlichkeit aufgezehrt, sodass sie einem grimmigen Raben glich.
»Renn behauptet, dass du mit dem Wolf sprechen kannst«, sagte sie schroff. »Das gehört auch zu unserer Weissagung, wir haben es dir bloß noch nicht erzählt.«
Torak sah sie ungläubig an. »Renn irrt sich«, beteuerte er. »Ich kann gar nicht …«
»Lüg uns nicht an«, unterbrach ihn Fin-Kedinn, ohne sich umzudrehen.
Torak schluckte. Wieder tastete er hektisch hinter seinem Rücken umher. Und diesmal… ja! Seine Finger schlossen sich um einen winzigen Feuersteinsplitter, nicht größer als sein Daumennagel. Wahrscheinlich hatte dort jemand sein Messer geschärft. Wenn Fin-Kedinn und Saeunn endlich zum Sippentreffen zurückgingen, könnte er sich befreien! Dann würde er Wolf holen, an den Wachen vorbeiflitzen und…
Um das alles zu schaffen, müsste ich schon großes Glück haben, dachte er entmutigt.
»Soll ich dir auch verraten, weshalb du mit dem Wolf sprechen kannst?«, fuhr Saeunn fort.
»Wozu soll das gut sein, Saeunn«, mischte sich Fin-Kedinn ein. »Wir verschwenden bloß unsere Zeit…«
»Er muss es erfahren«, erwiderte die Alte und verfiel in Schweigen. Dann zog sie mit dem gelben verkrümmten Finger die Spirale auf ihrem Amulett nach.
Torak sah zu, wie ihre Klaue immer rundherum fuhr. Ihm wurde ganz schwindlig.
»Vor vielen, vielen Sommern«, sprach die Schamanin des Rabenclans, »verließen dein Vater und deine Mutter ihre Sippe und versteckten sich vor ihren Feinden tief im Großen Wald, bei den grünen Seelen der sprechenden Bäume.« Rundherum fuhr der krumme Finger und versetzte Torak in längst vergangene Zeiten.
»Drei Monde nach deiner Geburt starb deine Mutter«, sprach Saeunn weiter.
Fin-Kedinn stand auf, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte in die Nacht hinaus.
Torak blinzelte wie jemand, der aus einem Traum erwacht.
Saeunn würdigte Fin-Kedinn keines Blickes. Sie sah Torak unverwandt an. »Du warst noch ein Säugling. Dein Vater konnte dich nicht nähren. Wenn so etwas geschieht, tötet der Vater das Kind für gewöhnlich, um es davor zu bewahren, dass es elend verhungert. Dein Vater jedoch fand einen Ausweg. Eine Wölfin, die gerade geworfen hatte. Er legte dich zu ihr in die Höhle.«
Torak gab sich Mühe zu begreifen, was die Alte sagte.
»Drei Monde hast du bei den Wölfen gelebt, drei Monde die Wolfssprache erlernt.«
Torak umklammerte den Steinsplitter so fest, dass er ihm in die Handfläche schnitt. Er spürte, dass Saeunn die Wahrheit sprach. Deshalb konnte er sich also mit Wolf verständigen! Deshalb hatte er solche eigenartigen Dinge gesehen, als er die Wolfshöhle entdeckt hatte. Die durcheinander purzelnden Welpen. Die dickflüssige, nahrhafte Milch …
Aber woher wusste Saeunn das alles?
»Nein«, sagte er trotzig. »Du willst mich hereinlegen. Du kannst das alles überhaupt nicht wissen, du warst nicht dabei.«
»Dein Vater hat es mir erzählt«, entgegnete die Alte.
»Das kann auch nicht stimmen. Wir haben uns immer von anderen fern gehalten …«
»Nicht immer. Erinnerst du dich an das Sippentreffen am Meer vor fünf Sommern?«
Torak schlug das Herz bis zum Hals.
»Damals hat mich dein Vater aufgesucht und mir von dir erzählt.« Die gelbliche Klaue blieb in der Mitte der Spirale stehen. »Du bist nicht wie alle anderen«, krächzte sie wie ein Rabe. »Du bist der Lauscher.«
Torak umklammerte krampfhaft den Splitter. »Das … das kann nicht sein. Ich verstehe das alles nicht.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Fin-Kedinn und drehte sich um. »Dein Vater hat dir nicht erzählt, wer du bist, habe ich Recht?«
Torak schüttelte den Kopf.
Der Anführer des Rabenclans schwieg. Er verzog keine Miene, doch Torak ahnte, was für widerstreitende Gefühle hinter den steinernen Zügen tobten. »Eins musst du wissen«, fuhr Fin-Kedinn schließlich fort. »Es war kein Zufall, dass der Bär deinen Vater angegriffen hat. Seinetwegen wurde der Bär überhaupt erschaffen.«
Torak stockte der Atem. »Wegen meines Vaters?«
»Fin-Kedinn …«, sagte Saeunn warnend.
Der Anführer bedachte sie mit einem strengen Blick. »Du hast eben selbst gesagt, dass er es erfahren muss. Und jetzt erzähle ich es ihm.«
»Aber es war doch der verkrüppelte
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