Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
Wolf das alles nicht zu beunruhigen. Er fand den Schnee herrlich, machte sich einen Spaß daraus, mit den Pfoten hineinzuschlagen und Eisbrocken in die Luft zu werfen. Dann wieder blieb er schlitternd stehen und lauschte Lemmingen und Schneemäusen, die unter der Oberfläche ihre Gänge gruben.
Jetzt machte er Halt, um an einem Eisstück zu schnüffeln und es mit der Pfote zu betatschen. Als es nicht reagierte, ließ er sich auf die Vorderpfoten nieder und forderte es mit einladendem Winseln zum Spielen auf.
»Schsch!«, zischte Torak und vergaß ganz, Wolfssprache zu benutzen.
»Schsch!«, zischte auch Renn weiter vorn.
Um Wolf endlich zum Schweigen zu bringen, tat Torak so, als hätte er in der Ferne etwas Jagdbares ausgemacht, indem er reglos stehen blieb und gespannt zum Horizont blickte.
Wolf machte es ihm nach. Aber als er weder einen Geruch noch ein Geräusch wahrnahm, zuckte er mit den Barthaaren und warf Torak einen fragenden Blick zu. Wo denn? Wo ist die Beute?
Torak streckte sich und gähnte. Keine Beute .
Was? Warum jagen wir dann?
Sei einfach still!
Wolf stieß ein leises, betrübtes Winseln aus.
»Kommt schon!«, flüsterte Renn. »Wir müssen drüben sein, bevor es Nacht wird!«
Im Schatten der Eisklippen war es furchtbar kalt. Im Lager am See hatten sie sich so gut wie möglich darauf vorbereitet, hatten ihre Stiefel mit Sumpfgras ausgestopft, hatten sich Handschuhe und Mützen aus Renns Lachshaut und dem Rest Rohleder angefertigt, dazu für Torak einen Umhang aus mit Sumpfgras zusammengebundenem und mit Sehnen vernähtem Schilf. Aber das half alles nur notdürftig.
Außerdem gingen ihre Vorräte zur Neige. Sie hatten nur noch einen Wassersack und auch der geräucherte Lachs und das Räucherfleisch reichten nur noch für wenige Tage. Torak konnte sich denken, was Fa gesagt hätte: Eine Wanderung im Schnee ist kein Spiel, Torak. Wenn du das glaubst, musst du bitter dafür bezahlen.
Er musste sich eingestehen, dass er eigentlich so gut wie nichts über Schnee wusste. Oder wie Renn es ungerührt auf den Punkt gebracht hatte: »Ich weiß nur, dass im Schnee das Fährtenlesen leichter ist, dass man daraus kleine Kugeln formen kann und dass man sich, wenn man von einem Schneesturm überrascht wird, eine Schneehöhle graben und darin abwarten soll, bis das Unwetter vorüber ist. Mehr weiß ich auch nicht.«
Der Schnee wurde tiefer und schon bald wateten sie bis zu den Oberschenkeln darin. Wolf ließ sich zurückfallen, damit er bequem in der von Torak gespurten Schneise trotten konnte.
»Ich hoffe bloß, dass er den Weg auch wirklich kennt«, sagte Renn leise. »So weit im Norden bin ich noch nie gewesen.«
»Ist hier überhaupt schon mal jemand gewesen?«
Sie hob die Augenbrauen. »Aber ja – die Eisclans. Aber die leben im Flachland, nicht auf dem Eisfluss selbst.«
»Die Eisclans?«
»Die Eisfüchse, Schneehühner, Narwale. Aber du hast doch bestimmt schon…«
»Nein«, seufzte er. »Hab ich nicht. Ich weiß nicht mal …«
Hinter ihnen ließ Wolf ein dumpfes Knurren vernehmen.
Torak drehte sich um und sah, wie der Welpe unter einem Bogen aus festem Eis in Deckung ging. Er blickte hoch und schrie: »Pass auf!«, packte Renn und zerrte sie unter den Bogen.
Ein ohrenbetäubendes Krachen – und schon waren sie von tosendem Weiß umgeben. Eisbrocken donnerten rings um sie nieder, zerstäubten zu Schnee, stoben als tödliche Splitter umher. Torak hoffte inständig, dass der Bogen nicht nachgab, denn sonst würden sie über den Schnee verspritzt werden wie zerquetschte Preiselbeeren …
Der Eissturz hörte so abrupt auf, wie er eingesetzt hatte.
Torak seufzte erleichtert. Alles, was er jetzt noch hörte, war der zusammenrutschende Schnee.
»Warum hat es aufgehört?«, flüsterte Renn.
Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat sich der Fluss nur im Schlaf umgedreht.«
Renn starrte auf die ringsum aufgetürmten Eisschollen. »Ohne Wolf würden wir jetzt da drunterliegen.« Sie war ganz blass, wodurch ihre Clantätowierungen noch deutlicher zu sehen waren als sonst. Torak vermutete, dass sie an ihren Vater dachte.
Wolf stand auf, schüttelte sich und besprühte sie mit nassem Schnee. Dann machte er ein paar Schritte, schnüffelte ausgiebig und wartete, dass sie ihm folgten.
»Komm«, sagte Torak. »Ich glaube, jetzt ist es sicher.«
»Sicher?« , brummte Renn zweifelnd.
Während der Tag verging und die Sonne über den wolkenlosen Himmel westwärts wanderte, erschienen
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