Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
vor wie eine Raupe, die an ihrem Faden baumelt.
»Es ist besser, wir bleiben hier«, sagte Torak. Er zeigte nach Norden auf den Geröllhang und das weiße Glitzern. »Das hier ist der kürzeste Weg zum Berg.«
Renn wurde flau. »Was? Wovon redest du?«
»Wolf hat es mir gesagt. Wir müssen dorthin.«
»Aber… dort können wir nicht hinauf.«
»Warum nicht?«
»Weil das der Eisfluss ist!«
Torak und Wolf blickten sie erstaunt an, und sie sah sich zwei Paar Wolfsaugen gegenüber, das eine bernsteinfarben, das andere hellgrau. Wieder fühlte sie sich schmerzlich ausgeschlossen.
»Begreif doch, Renn«, sagte Torak geduldig, »es ist der kürzeste Weg zum Berg.«
»Mir doch egal!« Sie suchte verzweifelt nach irgendeiner Begründung, die er gelten lassen würde. »Wir müssen immer noch den dritten Teil der Nanuak finden, hast du das vergessen? Dunkelstes Licht ist der kälteste Fund. Dort oben werden wir es wohl kaum entdecken! Dort ist es zwar kalt, aber sonst gibt es dort überhaupt nichts!« Nichts als den Tod, ergänzte sie stumm.
»Du hast letzte Nacht das rote Auge gesehen«, hielt Torak dagegen. »Es steigt immer höher. Uns bleiben nur noch wenige Tage …«
»Hörst du mir überhaupt nicht zu?«, rief sie. »Wir können den Eisfluss nicht überqueren!«
»O doch«, antwortete er mit bestürzender Gelassenheit. »Wir finden schon eine Möglichkeit.«
»Wie denn? Wir haben nur noch einen Wassersack und vier Pfeile. Insgesamt! Vier Pfeile! Außerdem wird es Winter und du hast nur Sommerkleider an!«
Er musterte sie nachdenklich. »Das ist nicht der wahre Grund, dass du dich so sträubst.«
Sie sprang wütend auf und stapfte davon, kam jedoch gleich wieder zurückmarschiert. »Mein Vater ist in genau so einem Eisfluss gestorben«, sagte sie leise.
Der Wind strich mit traurigem Wispern übers Moor. Torak blickte auf Wolf hinunter, dann sah er sie wieder an.
»Es war ein Schneesturz«, fuhr sie fort. »Er war auf dem Eisfluss jenseits vom Axtkopfsee. Eine halbe Eisklippe ist auf ihn herabgestürzt. Erst im Frühjahr hat man seine Leiche gefunden. Saeunn musste eine besondere Zeremonie abhalten, um seine Seelen wieder zusammenzuführen.«
»Tut mir Leid«, sagte Torak. »Ich wusste nicht…«
»Ich erzähle dir das nicht, damit ich dir Leid tue«, fiel sie ihm ins Wort, »sondern um dir etwas klar zu machen. Mein Vater war ein starker, erfahrener Jäger, der sich in den Bergen auskannte. Trotzdem hat ihn der Eisfluss getötet. Wie dürfen wir da hoffen… wie kannst du da glauben, dass es ausgerechnet uns gelingt, ihn zu überqueren?«
Kapitel 23
»SEI GANZ, GANZ LEISE«, flüsterte Renn. »Er kann beim kleinsten Geräusch erwachen.«
Torak legte den Kopf in den Nacken und spähte zu den bedrohlich über ihnen aufragenden Eisklippen hoch. Er hatte schon vorher Eis gesehen, aber nichts, was damit zu vergleichen gewesen wäre. Nicht solche messerscharfen Spitzen und klaffenden Spalten und Eiszapfen, die größer waren als Bäume. Es sah aus, als hätte der Weltgeist eine große, sich überschlagende Welle mit dem Finger berührt, sodass sie mitten in der Bewegung erstarrt war. Trotzdem waren Torak die Klippen, als er sie vom Hang aus erblickt hatte, nur wie eine kleine Runzel in der endlosen Schollenlandschaft vorgekommen.
Nachdem sie Wolf einen Tag Ruhe gegönnt hatten, waren sie vom See durchs Moor und dann den Hang hinaufgewandert, wo sie in einer Senke gelagert hatten, die ihnen kaum Schutz vor dem Wind gewährte. Vom Bären war weit und breit nichts zu sehen. Vielleicht hatte der Tarnzauber ja gewirkt, vielleicht war der Bär aber auch, wie Renn meinte, nach Westen weitergezogen, um unter den Sippen zu wüten.
Am folgenden Morgen hatten sie die Flanke des Eisflusses erklommen und sich nach Norden gewandt.
Es war Wahnsinn, direkt unter den Eisklippen entlangzugehen, wo sie jeden Augenblick von einem Schneesturz erschlagen werden konnten, aber ihnen blieb nichts anderes übrig. Weiter westlich war der Pfad von einem reißenden Schmelzwasserstrom versperrt, der sich eine tiefe blaue Klamm gegraben hatte.
Sie kamen nur langsam voran. Der Schnee war harsch, ihre Schritte knirschten laut. Toraks neuer Schilfumhang raschelte wie trockenes Laub. Sogar sein eigenes Atmen schien ihm ohrenbetäubend laut. Ringsum hörte er unheimliches Knarzen und hallendes Stöhnen: Der Eisfluss murmelte im Schlaf. Es hörte sich ganz so an, als brauchte es nicht viel, um ihn zu wecken.
Eigenartigerweise schien
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