Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
Schmelzwasserstrom rauschen. Torak steckte mitten im Eisfluss. Wie sollte er hier wieder herauskommen?
Renn und Wolf spähten zu ihm herab. Sie mochten ungefähr drei Schritt über ihm stehen, es konnten aber ebenso gut dreißig sein. »Jetzt wissen wir wenigstens, wo das Schmelzwasser geblieben ist«, sagte er mit bemühter Gelassenheit.
»Du bist nicht besonders tief gefallen«, rief Renn, die ihm Mut machen wollte. »Immerhin hast du deine Trage nicht verloren.«
»Meinen Bogen auch nicht«, ergänzte er und hoffte, nicht allzu verzagt zu klingen. »Und die Nanuak ist auch noch da.« Der Beutel hing unversehrt an seinem Gürtel.
Die Nanuak , dachte er entsetzt.
Was, wenn er hier nicht mehr herauskam? Dann saß er hier unten fest und die Nanuak mit ihm. Ohne die Nanuak waren alle Aussichten, den Bären zu vernichten, dahin. Dann war der Große Wald verloren … und das nur, weil er nicht aufgepasst hatte, wo er hintrat …
»Torak?«, flüsterte Renn wieder. »Alles in Ordnung?«
Er versuchte, ihre Frage zu bejahen, brachte aber nur ein Krächzen zustande.
»Nicht so laut!«, hauchte Renn. »Sonst kommt vielleicht noch mehr Schnee herunter … oder… oder das Loch schließt sich, während du drin bist…«
»Na danke«, sagte er mürrisch, »an diese Möglichkeit hatte ich noch gar nicht gedacht.«
»Hier! Versuch, das zu fangen.« Sie beugte sich bedenklich weit über den Rand und ließ die Axt mit der Schneide voran herunterbaumeln. Den Riemen um den Stiel hatte sie sich ums Handgelenk gewunden.
»Du kannst mein Gewicht nicht halten«, wehrte er ab. »Ich würde dich nur herunterziehen und dann stürzen wir beide ab …«
»Beide ab, beide ab«, hallte es von den Wänden wider.
»Kannst du nicht heraufklettern?«, fragte Renn. Ihre Stimme klang ein wenig zittrig.
»Nichts leichter als das. Jedenfalls wenn ich ein Vielfraß wäre, mit langen Klauen.«
»Klauen, Klauen«, sang das Eis.
Das brachte Torak auf eine Idee.
Langsam und vorsichtig, damit er nicht von seinem Sims abrutschte, streifte er die Riemen seiner Trage von einer Schulter und schaute nach, ob das Gehörn des Rehbocks noch da war. Tatsächlich. Es war ein kurzes Gehörn mit schartigen Wurzelenden. Wenn es ihm gelang, sich einen Spieß an jedes Handgelenk zu binden und sich daran festzuhalten, konnte er die gezackten Ansätze vielleicht wie Eispickel benutzen und aus dem eisigen Schacht klettern, als hätte er tatsächlich Klauen.
»Was hast du vor?«, wollte Renn wissen.
»Wirst du schon sehen«, antwortete er. Ausführliche Erklärungen waren jetzt nicht angebracht. Schon wurde das Sims unter seinen Stiefeln rutschig, außerdem tat ihm das Knie weh.
Er ließ das Gehörn vorerst in der Trage und nahm die Axt vom Gürtel. »Ich muss Kerben ins Eis schlagen«, rief er zu Renn hinauf. »Ich hoffe nur, der Fluss spürt nichts.«
Sie gab keine Antwort. Natürlich würde der Fluss etwas spüren, aber was sollte Torak sonst tun?
Der erste Axthieb ließ prasselnde Eissplitter in den Abgrund regnen. Selbst wenn der Eisfluss es nicht spürte, er hörte es auf jeden Fall.
Mit zusammengebissenen Zähnen zwang sich Torak zum nächsten Hieb. Noch mehr Splitter prasselten hinab und lösten endlose Echos aus.
Das Eis war hart, und aus Angst, nach hinten zu kippen, traute er sich nicht, weit auszuholen, doch nachdem er eine Weile zaghaft vor sich hin gehackt hatte, gelang es ihm, vier, etwa eine Unterarmlänge voneinander entfernte, versetzte Kerben in einer Höhe zu schlagen, die er gerade noch erreichen konnte. Sie waren beängstigend flach, kaum tiefer als sein Daumenglied, und er hatte keine Ahnung, ob sie ihn aushalten würden. Sie konnten ebenso gut wegbrechen, wenn er sich mit seinem vollen Gewicht dranhängte, und ihn mit sich in die Tiefe reißen.
Er schob die Axt in den Gürtel zurück, zog die Handschuhe aus und wühlte in der Trage nach dem Gehörn und den letzten Lederriemen. Seine Finger waren so steif vor Kälte, dass er fast die Geduld verlor, als er versuchte, sich die kleinen Spieße an die Handgelenke zu binden. Schließlich schaffte er es, indem er die Zähne zuhilfe nahm, um die Knoten festzuziehen.
Mit der rechten Hand langte er nach der Kerbe über seinem Kopf und grub den schartigen, gezackten Gehörnansatz tief hinein, bis er Halt fand. Mit dem linken Fuß tastete er nach der untersten Kerbe und stellte sich darauf.
Die Trage zog ihn nach hinten auf den Abgrund zu. Verzweifelt beugte er sich vor, drückte das
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