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Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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festhalten, damit er ihm nicht weggerissen wurde. Durch den peitschenden Schnee sah er, wie sich Renn mühsam vorankämpfte, Wolf taumelte seitwärts und hatte die Augen gegen den Wind zu schmalen Schlitzen verengt. Der Eisfluss hatte sie in seinem Griff und wollte sie nicht wieder loslassen. Er heulte, bis Torak die Ohren dröhnten, und schrubbte ihm das Gesicht mit rauen Eiskörnern, er schleuderte ihn herum, bis er Renn und Wolf nicht mehr sehen konnte, ja nicht einmal mehr seine eigenen Stiefel. Und jeden Augenblick konnte er ihn wieder in ein Eisloch werfen …
    Durch das wirbelnde Weiß erhaschte er einen Blick auf eine dunkle Säule. Ein Felsen? Eine Schneewehe? War es möglich, dass sie endlich das andere Ufer des Eisflusses erreicht hatten?
    Renn packte ihn am Arm. »Wir können nicht weiter!«, schrie sie. »Wir müssen uns eingraben und warten, bis es vorbei ist!«
    »Noch nicht!«, schrie er. »Sieh doch! Wir sind fast da!«
    Sie kämpften sich auf die Säule zu, doch die zerfaserte und stob auseinander. Es war nur eine Schneewolke gewesen, eine hinterhältige Finte des Eisflusses. Torak wandte sich nach Renn um. »Du hast Recht! Lass uns eine Schneehöhle graben!«
    Aber Renn war nicht mehr da.
    »Renn! Renn! « Der Eisfluss riss ihm den Namen von den Lippen.
    Torak fiel auf die Knie und tastete nach Wolf. Sein Handschuh traf auf Fell und er drückte den Welpen an sich. Der sah sich um und suchte Renns Geruch, doch sogar ein Wolf konnte in diesem Schneegestöber keine Witterung aufnehmen.
    Oder doch? Zu Toraks Verblüffung spitzte Wolf die Ohren und blickte direkt geradeaus. Torak glaubte, im Schnee eine Gestalt auszumachen. »Renn!«
    Wolf setzte der Gestalt nach, und Torak lief hinterher, kam aber nicht weit, weil ihn der Sturm gegen eine Eiswand warf. Er fiel auf den Rücken und hätte fast den Welpen zerquetscht. Er war an etwas gestoßen, das wie ein Eishügel aussah. An der Flanke war eine Öffnung, gerade groß genug, um hineinzukriechen. Eine Schneehöhle? Renn konnte unmöglich in so kurzer Zeit einen Unterschlupf gebaut haben.
    Mit einem Satz verschwand Wolf in der Öffnung. Torak zögerte einen Augenblick und folgte ihm dann.
    Allmählich wurde das Toben des Eisflusses leiser. Mit eisverkrusteten Handschuhen tastete Torak die Umgebung ab. Eine niedrige Decke, so niedrig, dass er auf allen vieren kriechen musste, eine Eisplatte neben dem Eingang. Jemand musste sie herausgeschnitten haben, aber wer?
    »Renn?«, rief er.
    Keine Antwort.
    Er schob die Platte vor das Loch und es wurde still um ihn. Er konnte hören, wie sich Wolf den Schnee von den Pfoten leckte, wie das Eis von seinen Schultern rutschte.
    Er streckte die Hand aus, doch Wolf stieß ein warnendes Knurren aus.
    Toraks Hand zuckte sofort zurück. Seine Nackenhaare sträubten sich. Renn war nicht hier drin … aber etwas anderes lauerte in der Dunkelheit. »Wer ist da?«, fragte er.
    Die eisige Schwärze schien sich zu verdichten.
    Torak zerrte sich die Handschuhe mit den Zähnen herunter und riss sein Messer heraus. »Wer ist da?«
    Immer noch keine Antwort. Er kramte eins von Renns Binsenlichtern heraus, doch seine Finger waren so kalt, dass er den Zunderbeutel fallen ließ. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er ihn wiedergefunden, und noch länger, bis er den Feuerstein am Flammenstein gerieben hatte und Funken auf das Häufchen Ebereschenrinde in seiner Hand regneten, doch schließlich flammte das Binsenlicht auf.
    Renn und der Eisfluss waren vergessen. Er stieß einen Entsetzensschrei aus.
    Neben seinem Knie lag ein Mann.
    Er war tot.

    Torak drückte sich mit dem Rücken an die Eiswand. Hätte ihn Wolf nicht gewarnt, er hätte die Leiche berührt – und wer einen Toten berührte, riskierte Schreckliches. Wenn die Seelen einen Toten verlassen, können sie wütend sein, verwirrt oder einfach nur unwillig, sich auf die Todesreise zu begeben. Wenn ihnen dann etwas Lebendiges zu nahe kommt, können die körperlosen Seelen versuchen, davon Besitz zu ergreifen oder ihm zu folgen.
    Das alles schoss Torak durch den Kopf, als er den toten Mann betrachtete.
    Seine Lippen waren wie aus Eis gemeißelt, seine Haut schimmerte wachsgelb. Schnee war ihm in die Nasenlöcher geweht wie eine grausame Verhöhnung von Atem, doch die eisverkrusteten Augen standen offen und hatten den Blick auf etwas gerichtet, das Torak nicht sehen konnte, auf etwas, das in der Beuge seines leblosen Arms geborgen lag.
    Wolf schien keine Angst zu haben, sondern im

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