Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
lassen. Sie war seine Freundin. Aber durfte er… sollte er… das Überleben des Großen Waldes aufs Spiel setzen, um sie zu retten?
Wie nie zuvor sehnte er sich nach Fa. Fa hätte gewusst, was zu tun wäre …
Aber Fa ist nicht hier, rief er sich in Erinnerung. Du musst diese Entscheidung treffen, du, Torak, du ganz allein.
Wolf legte abwartend den Kopf schief.
Kapitel 26
»TORAK!«, BRÜLLTE RENN aus voller Kehle. »Torak! Wolf! Wo seid ihr?« Sie war ganz allein dem Sturm ausgeliefert. Ihre Gefährten konnten drei Schritt von ihr entfernt sein – sie würde sie nicht sehen. Sie konnten in ein Eisloch gefallen sein, ohne dass sie ihre Schreie gehört hätte.
Der Wind stieß sie in eine Schneewehe und Schnee drang ihr in den Mund. Sie verlor einen Handschuh und der Eisfluss wehte ihn davon. »Nein!«, schrie sie und schlug mit den Fäusten nach dem Wind. »Nein, nein, nein!«
Auf allen vieren kroch sie weiter. Beruhige dich. Such festen Schnee. Grab dich ein.
Nach einem schier endlosen Kampf gelangte sie an einen Schneehügel. Der Wind hatte den Schnee fest zusammengedrückt, aber noch nicht so fest, dass er sich in Eis verwandelt hätte. Sie riss die Axt vom Gürtel und fing an, ein Loch hineinzuhacken.
Torak macht wahrscheinlich das Gleiche, sagte sie sich. Jedenfalls hoffe ich das, beim Weltgeist!
Mit erstaunlicher Geschwindigkeit hackte sie eine Vertiefung in den Hügel, gerade groß genug, um ihre Trage und sie selbst aufzunehmen, wenn sie sich klein machte. Die Arbeit hatte sie aufgewärmt, doch sie konnte die handschuhlose Hand nicht mehr spüren.
Sie kroch rückwärts in die Mulde hinein, stapelte die herausgebrochenen Stücke vor den Eingang und mauerte sich in der froststarrenden Dunkelheit ein. Schon bald brachte ihr Atem die Eiskruste auf ihren Kleidern zum Schmelzen und sie fing an zu zittern. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie, dass die handschuhlosen Finger weiß und steif waren. Sie wollte sie krümmen, doch sie bewegten sich nicht.
Sie hatte von Erfrierungen gehört. Aki, der Sohn des Anführers des Eberclans, hatte dadurch im vergangenen Winter drei Zehen verloren. Wenn sie die Finger nicht bald aufwärmte, würden sie schwarz werden und absterben. Dann mussten sie abgeschnitten werden, sonst würde sie selbst daran sterben. Verzweifelt hauchte sie ihre Finger an und schob sie dann unter dem Wams in die Achselhöhle. Die Hand fühlte sich so schwer und kalt an, als gehörte sie nicht mehr zu ihr.
Neue Schreckensbilder stiegen in ihr auf. Musste sie hier einsam und verlassen sterben wie ihr Vater? Würde sie Fin-Kedinn nie wiedersehen? Wo waren Torak und Wolf? Selbst wenn sie alle am Leben blieben, wie sollten sie einander wiederfinden?
Sie zog den verbliebenen Handschuh aus, tastete an ihrem Hals nach der Knochenpfeife, die ihr Torak gegeben hatte, und blies kräftig hinein. Sie blies, bis ihr schwindlig wurde. Sie kommen nicht, dachte sie. Sie haben sich bestimmt längst eingegraben, falls sie überhaupt noch leben.
Die Pfeife schmeckte salzig. Lag das an dem Hühnerknochen … oder weinte sie etwa? Weinen hat keinen Zweck, tadelte sie sich. Sie kniff die Augen zusammen und blies weiter.
Als sie aufwachte, war sie von herrlicher Wärme umgeben. Der Schnee war so warm und weich wie Rentierfell. Sie kuschelte sich hinein, war so schläfrig, dass sie nicht einmal die Lider öffnen konnte … viel zu schläfrig, um in ihren Schlafsack zu kriechen …
Stimmen rissen sie aus dem Schlummer. Fin-Kedinn und Saeunn waren zu Besuch gekommen.
Warum lassen sie mich nicht schlafen?, dachte sie benommen.
Ihr Bruder hatte wie immer etwas zu nörgeln. »Warum ist es hier so eng? Warum kann sie nichts richtig machen?«
»Das ist ungerecht, Hord«, sagte Fin-Kedinn. »Sie hat ihr Bestes gegeben.«
»Trotzdem«, meinte Saeunn, »sie hätte wenigstens den Eingang besser verschließen können.«
»Ich war zu müde«, murmelte Renn.
In diesem Augenblick drang ein Windstoß herein und Eisstückchen prasselten auf sie herab. »Zumachen!«, protestierte sie.
Einer der Lagerhunde sprang auf sie drauf, überschüttete sie mit Schneeklümpchen und schob ihr die kalte Nase unters Kinn.
»Wach auf, Renn!«, brüllte ihr Torak ins Ohr.
»Ich schlafe!« , brummelte Renn und vergrub das Gesicht im Schnee.
»Nein, du schläfst nicht!« Torak sehnte sich selbst nach Schlaf, aber erst musste er für sich und Wolf Platz schaffen und Renn wecken. Wenn sie jetzt einschlief,
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