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Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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Gegenteil von der Leiche fasziniert zu sein. Er legte die Schnauze zwischen die Vorderpfoten und starrte den Toten beharrlich an.
    Der Mann trug das lange braune Haar offen. Nur eine einzige Locke war mit roter Ockerpaste an die Schläfe geklebt. Torak dachte an die Rotwildfrau bei Fin-Kedinns Sippentreffen. Sie hatte ihr Haar auf die gleiche Art getragen. Gehörte dieser Mann zur selben Sippe? Zur selben Sippe wie Toraks Mutter?
    Er spürte Mitleid in sich aufsteigen. Wie hieß der Mann? Was hatte er hier draußen zu suchen gehabt und wie war er zu Tode gekommen?
    Dann bemerkte Torak den schiefen roten Ockerkreis auf der braunen Stirn. Die dicke Winterjacke stand offen und auf der Brust leuchtete ein zweiter Kreis. Torak vermutete, dass er, wenn er sich trauen würde, dem Mann die schweren Fellstiefel auszuziehen, auf jeder Ferse ein ähnliches Zeichen finden würde. Todeszeichen. Der Mann musste den nahenden Tod gespürt und sich die Zeichen selbst aufgemalt haben, damit seine Seelen zusammenblieben, nachdem er gestorben war. Deshalb hatte er wohl auch die Platte nicht mehr vor den Eingang geschoben – um seine Seelen freizulassen.
    »Du bist tapfer gewesen«, sagte Torak laut. »Der Tod hat dich nicht geschreckt.« Er entsann sich der verschwommenen Gestalt im Schnee. War das eine der Seelen gewesen, die sich auf die letzte Reise begeben hatte? Konnte man Seelen überhaupt sehen?
    »Friede sei mit dir«, wandte er sich abermals an den Toten. »Mögen deine Seelen ihre Ruhe finden und beisammenbleiben.« Er verneigte sich vor seinem toten Blutsverwandten.
    Wolf setzte sich auf und drehte die Ohren in Richtung der Leiche. Er schien zu lauschen.
    Torak beugte sich verwundert vor.
    Der Tote blickte gelassen auf den Gegenstand in seiner Armbeuge. Doch als Torak erkannte, worum es sich handelte, staunte er noch mehr. Es war eine gewöhnliche Lampe, ein glattes Oval aus rotem Sandstein, ungefähr halb so groß wie seine Handfläche, darin eine flache Vertiefung für den Fischtran und eine Rinne für den Docht aus gezwirbelter Bartflechte. Der Docht war schon längst weggebrannt und vom Öl zeugte nur noch ein stumpfer grauer Fleck.
    Wolf stieß ein leises, hohes Winseln aus. Sein Nackenhaar war gesträubt, aber er schien keine Angst zu haben. Das Winseln war … ein Gruß.
    Torak runzelte nachdenklich die Stirn. So hatte sich Wolf schon einmal benommen, in der Höhle unter den Donnerfällen.
    Er betrachtete wieder den Toten, stellte sich dessen letzte Augenblicke vor: wie er in den Schnee gekauert die kleine, helle Flamme beobachtete, während sein Leben flackernd verlosch …
    Plötzlich begriff Torak: Dunkelstes Licht ist der kälteste Fund . Das dunkelste Licht ist das letzte Licht, das ein Mensch sieht, bevor er stirbt.
    Er hatte den dritten Bestandteil der Nanuak gefunden.

    Mit dem Binsenlicht in einer Hand band Torak mit der anderen den Rabenhautbeutel auf und stellte die Rindenschachtel in den Schnee.
    »Wuff!«, warnte Wolf.
    Torak löste die Haarschnur und hob den Deckel ab. Die Flussaugen lagen in die Rundung des schwarzen Zahns geschmiegt und starrten ihn blind an. Daneben war gerade noch Platz für die Lampe. Als hätte Renn gewusst, wie groß die Schachtel sein musste, dachte er.
    Mit tauben Fingern zog er einen Handschuh an und beugte sich über den Toten, wobei er sorgsam darauf achtete, ihn nicht zu berühren, dann nahm er ihm die Lampe aus dem Arm. Erst als er sie in der Schachtel und die Schachtel wieder im Beutel verstaut hatte, merkte er, dass er die ganze Zeit den Atem angehalten hatte.
    Jetzt musste er aber endlich Renn suchen. Rasch knotete er den Beutel an seinen Gürtel, doch als er sich umdrehte, um die Eisplatte vom Eingang wegzuziehen, hielt er inne.
    Er hatte jetzt alle drei Bestandteile der Nanuak. Hier, in dieser Schneehöhle, in der er geschützt war.
    »Wenn dich ein Schneesturm überrascht«, hatte ihm Renn erklärt, »musst du dir eine Schneehöhle graben und warten, bis er vorüber ist.« Wenn er ihren Rat jetzt missachtete, wenn er dem Zorn des Eisflusses trotzte, um nach ihr zu suchen, würde er das womöglich nicht überleben. Dann würde die Nanuak mit ihm untergehen und auch der Große Wald war dahin.
    Wenn er aber hier blieb, musste Renn womöglich sterben.
    Torak hockte sich auf die Fersen. Wolf beobachtete ihn aufmerksam. Seine bernsteinfarbenen Augen sahen gar nicht mehr nach Welpe aus.
    Das Binsenlicht in Toraks Hand flackerte. Er durfte Renn nicht einfach im Stich

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