Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
aus dem Weg.
Mit leisem Winseln rief er den Welpen zu sich, doch Wolf gehorchte nicht. Mit schmalen Augen, die schwarzen Lefzen hochgezogen, ließ er sein Lied aus sich herausströmen. Torak fiel auf, dass er sich verändert hatte. Seine Beine waren länger geworden und auf seinen Schultern wuchs ein Kragen aus dichtem schwarzem Pelz. Sogar sein Geheul hatte das welpenhafte Kieksen verloren.
»Was ruft er ihnen da zu?«, fragte Renn.
Torak schluckte. »Er erzählt ihnen, wo er ist.«
»Und was rufen sie?«
Torak lauschte, ohne Wolf aus den Augen zu lassen. »Sie reden mit zweien aus ihrem Rudel, Kundschaftern, die ins Hochmoor hinabgezogen sind, um Rentiere zu suchen. Es hört sich an wie …« Er unterbrach sich. »Ja, sie haben eine kleine Herde entdeckt. Die Kundschafter teilen den anderen mit, wo sie sich befindet und dass sie beim Heulen die Schnauzen in den Wind halten sollen.«
»Warum? Wozu soll das gut sein?«
»Das ist eine List, die Wölfe manchmal anwenden, um den Rentieren vorzugaukeln, sie seien weiter entfernt, als sie in Wahrheit sind.«
Renn sah ihn misstrauisch an. »Und das verstehst du alles?«
Er zuckte die Achseln.
Sie grub die Ferse in den Schnee. »Ich mag es nicht, wenn du Wolfssprache sprichst. Es ist irgendwie falsch.«
»Und ich mag es nicht, wenn Wolf mit anderen Wölfen spricht. Das ist auch irgendwie falsch.«
Renn wollte wissen, wie er das meinte, aber er antwortete nicht. Es war zu schmerzhaft, um es in Worte zu fassen. Ihm wurde immer klarer, dass er, auch wenn er die Wolfssprache beherrschte, kein Wolf war und nie einer sein würde. Ihn und den Welpen würde immer etwas trennen.
Wolf verstummte und kam von der Schneewehe heruntergetrottet. Torak kniete sich hin und legte den Arm um ihn. Er spürte die feingliedrigen Knochen unter dem dichten Winterfell, den kräftigen Schlag des treuen Herzens. Als er sich hinabbeugte, um den Süßgrasgeruch des Welpen einzuatmen, leckte ihm Wolf über die Wange und legte zärtlich die Stirn an seine.
Torak kniff die Augen fest zusammen. Bitte verlass mich nicht, niemals , hätte er gern gesagt. Aber er wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte.
Sie wandten sich nach Norden.
Es war ein anstrengender Marsch. Der Sturm hatte den Schnee zu gefrorenen Dünen zusammengedrückt und in den Mulden dazwischen lag der Schnee hüfthoch. Sie waren immer auf der Hut vor Eislöchern und stocherten mit Pfeilen vor sich im Schnee, wodurch sie noch langsamer vorankamen. Dabei hatten sie stets das Gefühl, dass die Berge sie beobachteten und nur darauf lauerten, dass sie es nicht schafften.
Bis zum Mittag waren sie immer noch in Sichtweite der Schneehöhle. Dann trafen sie auf ein neues Hindernis, eine Eiswand. Zum Erklettern war sie zu steil und zum Durchschlagen zu hart. Wieder einer der grausamen Scherze des Eisflusses.
Renn sagte, sie wolle sich ein wenig umsehen, während Torak mit dem Welpen wartete. Er war dankbar für diese Verschnaufpause, denn der Rabenhautbeutel wurde immer schwerer. »Nimm dich aber vor den Eislöchern in Acht«, mahnte er und sah besorgt zu, wie sie in die Spalte zwischen zwei der größten Eiszähne spähte.
»Sieht aus, als ob es hier einen Durchgang gibt«, rief sie, nahm ihre Trage ab und war verschwunden.
Torak wollte ihr eben nachgehen, da streckte sie den Kopf heraus. »Sieh dir das an, Torak! Wir haben’s geschafft! Wir haben’s geschafft!«
Wolf setzte ihr nach. Auch Torak stellte seine Trage ab und folgte den beiden. Er war ganz und gar nicht davon angetan, sich in einen engen Spalt zu quetschen, denn das erinnerte ihn an die schaurige Höhle im Wald, doch als er auf der anderen Seite herauskam, stockte ihm vor Staunen der Atem.
Zu seinen Füßen lag ein Sturzbach aus kreuz und quer übereinander getürmten Eisschollen, der wie ein gefrorener Wasserfall aussah. Weiter unten erstreckte sich ein langer Hang mit verschneiten Buckeln, und dahinter, kaum einen Steinwurf entfernt, lag der Wald in sein weißes, glitzerndes Winterkleid gehüllt.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn noch mal wieder sehe«, sagte Renn andächtig.
Wolf witterte, drehte sich nach Torak um und wedelte mit dem Schwanz.
Torak brachte kein Wort heraus. Er hatte nicht gewusst, wie weh es ihm getan hatte – ja, körperlich wehgetan –, den Großen Wald zu verlassen. Eigentlich waren sie nur drei Nächte fort gewesen, aber es kam ihm vor wie Monde.
Am späten Vormittag hatten sie den letzten Eishang überwunden und gingen
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