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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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den
Wasserstrom, bis sie steif wurden. Abends hatten sie Sonnenbrand, Vater auf dem
Kopf, auf dem die kahle Stelle tiefrot glomm, Mutter auf dem Nasenrücken, einen
lila Strich im Gesicht, als hätte sie sich als Clown geschminkt. Nur Annie tat
nichts weh, sie fasste vorsichtig an ihre Backen, heiße Kugeln, und rollte sich
in ihrem Bett zusammen, die Laken wie kühle Sahne an ihrem Hals.
    Ein paar Wochen später fragte Annie Mutter nach dem Ruderboot, ob es
ihnen gehörte, ob sie es wieder leihen könnten und wo Mutter das Rudern gelernt
hatte. »Das kannst du auch lernen«, sagte Mutter, und es klang wie ein
Versprechen, aber sie bekamen das Boot nicht mehr, und das Pflaumenmus gab es nur
noch ohne Rosinenstuten.
    Dann fällt der Vater einfach tot um, jedenfalls hört Annie das
Kindermädchen rufen, dass er im Feld einfach umgefallen ist, und da muss sie
noch lachen, weil sie denkt, er sei gestolpert. Aber das Kindermädchen rennt
gleich zu Mutter, die im Obstgarten auf der Leiter steht. Als das Haus
kaputtging, doch noch zerbombt in den letzten Kriegstagen, waren sie mit den
Hellwigers im großen Keller an der Ecke, und der Boden wackelte so heftig, dass
die Saiten auf Herrn Hellwigers Cello anfingen zu summen. Zuerst weinte
niemand, als sie nach dem Angriff hochkamen, sie standen da und schauten auf
die neue Landschaft, in die sich die Straße verwandelt hatte. »Siehst du«,
sagte Mutter scharf zu Vater, »und du wolltest im Haus bleiben, du Starrkopf.« Und dann gingen sie ein paar Schritte auf den Hausstumpf
zu, der aus dem Obstgarten ragte, groß war er nicht, der Schutthaufen, so ein
großes festes Haus geschrumpft zu einem kleinen staubigen Haufen. Annie
versuchte zu raten, welche Steine zu welchen Wänden gehört hatten, da fing
Mutter auf einmal mit dem Schreien an, ein Schrei nach dem anderen und
zwischendurch eine Pause zum Luftholen, seltsam wohlgeformt, als sänge die
Mutter ein besonders kurvenreiches Lied.
    Auch jetzt im Obstgarten hört Annie den Schrei der Mutter, hoch,
klar und lang gezogen, fast wie eine Sirene, und Annie hält sich die Ohren zu,
weil sie Geheul schon genug gehört hat und Mutter jetzt wirklich still sein
könnte, und sie kann nicht so recht glauben, wie einer einfach umfallen kann
und nicht mehr aufstehen, vor allem wenn es so viel zu tun gibt. Vater hat
keine Bilder mehr verkaufen können, natürlich nicht, wer wollte denn jetzt
schon Bilder kaufen, wo es nichts mehr zu essen gab und alles unter den
Trümmern oder zu den Bauern getragen für etwas Fett oder Kartoffeln oder eine
Tasse Milch. Die Einzigen, die doch manchmal Bilder wollten, waren die
Amerikaner, aber keinen Klatschmohn am Niederrhein und keine Pappelgruppen, sie
wollten sich selbst als strahlende, junge, siegreiche, kecke Soldaten, am
besten in Öl, aber klein und handlich, damit es in die Armeesäcke passte, und
so malte der Vater, kurz bevor er umfiel, viele junge amerikanische Gesichter,
so gut er eben konnte, denn Gesichter hatte er vorher nie gemalt, die hatten zu
wenige Farben. Er gab die Farben auf, die Brauns und Ockers, Dunkelgrüns und
Laubgelbs, Steingraus und Wolkenweiße, und malte Amerikaner in Öl und gedeckten
Farben. Nur wenn sie die amerikanische Flagge mit aufs Bild haben wollten,
konnte er leuchtendes Rot und strahlendes Weiß einsetzen, bald gingen Rot, Weiß
und Fleischfarben aus, und er musste die Zigaretten und Kaugummis der
Amerikaner tauschen gegen Farben statt Brot. Gut, dass es kaum regnete in
diesem Sommer, so konnte er die halbfertigen Amerikaner im Obstgarten gegen die
Baumstämme lehnen, eine ganze Reihe, nacheinander erst die Gesichter, dann die
Haare, die Augenbrauen waren wichtig, weil sie die weichen jungen Amerikaner
streng und durchdringend machten, viel Dunkelbraun brauchte der Vater für die Augenbrauen.
    Es gab immer Streit, um die Farben, um die Amerikaner, um das Haus,
diesen Schutthaufen im blühenden Obstgarten, »und deswegen«, erklärt Mutter
Annie, »ist es vielleicht nicht so schlimm, dass der Vater jetzt nicht mehr da
ist, denn wo er jetzt ist, hat er Frieden und Farben, und alles ist heil.« Annie starrt Mutter an, ob sie es ernst meint, und
während sie Annie noch beruhigend zunickt, auf die Beerdigung hat sie nicht
gehen dürfen, sammelt sich in Annie Wut wie eine Faust, die von innen gegen die
Rippen und auf die Luftröhre drückt und die auch von innen gegen

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