Chronik der Nähe
»Das mag er«, sagt sie
und zwinkert Annie zu. Es ist schwer, das Fett aus den Haaren zu bekommen,
Ingrid muss ihr am Waschbecken mit Kernseife und vielen Wassergläsern den
Gestank herausspülen, damit die Jungs am Abend von duftenden Mädchen umgeben
sind: Liebe Mutter, zwischen all dem Lernen und der Arbeit auf dem Markt bleibt
wenig Zeit, aber wir haben viel Spaà miteinander, und in drei Wochen komme ich
zu dir, und du weiÃt, wie ich dich liebe. Zu schreiben ist es leicht, jeder
Brief endet so, und Annie weiÃ, dass Mutter sich durch ihre Berichte hindurch
in einem Rutsch auf das Ende hinliest und den Satz, der so leicht zu schreiben
ist, in sich hineinschlingt und widerkäut, bis der nächste Brief kommt.
Im Winter klebt sie kleine Thermometer auf Pappherzen, eine
Verkaufsidee der Firma an der Ecke, die Herzen sehen hübsch aus, und man kann
zugleich die Raumtemperatur messen, »Schönheit und Nutzen«, sagt der alte Chef,
»und du musst es so ankleben, dass man die Schrift noch gut lesen kann, EIN WARMES HERZ SCHLÃGT FÃR , hier ist eine Linie, da kann
man den Namen eintragen.« Annie bastelt im Akkord warme Pappherzen, und nach
ein paar Stunden wird ihr etwas schwindelig von dem Klebstoff, aber der Chef
zahlt nicht schlecht pro Stück, und ein Weihnachtsgeschenk für die Mutter hat
sie nun auch. Wenn Ingrid mitbastelt, können sie sich gegenseitig abfragen und
zwischendurch kichern, dagegen hat der Chef nichts einzuwenden.
»Du bist meine beste Freundin«, sagt Ingrid, als sie sich abends die
Klebstoffreste von den Fingern kratzen und die Nasen putzen, und stöÃt sie mit
dem Ellbogen in die Rippen. »Ja«, sagt Annie und staunt, dass es so eine
Freundin für sie gibt, mit der sie Herzen basteln und Käsebrote verstecken
kann, und wenn Ingrid das Zimmer allein braucht, weil ein Junge sie in Ruhe
auskundschaften will, lenkt Annie die Schwester am Eingang ab, bis der Junge
drinnen ist, und geht dann spazieren, solange sie es aushält.
Als sie im Sommer die Stenoarbeit glanzvoll bestehen, gönnen sie
sich zwei Eisbecher mit Sahne am See und liegen so lange in der Sonne, bis sie
rot gebacken sind, abends reiben sie sich gegenseitig Salatöl auf die Schultern
und zupfen sich die Hautfetzchen ab: Liebe Mutter, das Wetter ist ganz
herrlich, Ingrid und ich tun so, als hätten wir Ferien, aber das Lernen
vergessen wir nicht, und du weiÃt, wie ich dich liebe.
Selten, viel zu selten zu Hause, aber die Briefe schafft sie immer,
auch wenn es im Zimmer kalt ist und der Stift auf dem dünnen Papier kratzt, und
bald ist es wieder so weit, ein Wochenende bei Mutter, die nicht mehr ganz so
breit und füllig ist wie vorher, als sie Annie in die Arme schlieÃt, die Kraft
ihrer Umarmung hat etwas nachgelassen, der Onkel Hermann gelblich und dürr
geworden, er hört fast nichts mehr, und zu den wenigen Geschichten, die Annie
ihm ins Ohr brüllt, schüttelt er ungeduldig den Kopf und zuckt mit den Schultern,
nur die Thermometerherzen interessieren ihn.
»Aus Pappe sind die Herzen«, fragt er.
»Ja«, schreit Annie, »aus fester Pappe, man kann sie an die Wand
hängen, verstehst du.« Der Onkel Hermann nickt, »das
ist eine gute Geschäftsidee, dabei solltest du bleiben, da solltest du ganz
groà einsteigen, die Leute wollen immer wissen, wie warm es ist.«
Mutter, ich muss schon wieder los, und wenn du zu mir kommst, lade
ich dich an den See ein, da gibt es das beste Eis, und du weiÃt, wie sehr ich
dich liebe, aber einen Kuss gibt es heute nicht, ich muss ganz schnell los.
Letzten Herbst gab ich nicht nach.
â Wir machen eine Reise, du und ich. Du sagst, wohin, ich kümmere
mich um alles.
Du wehrst ab, du rauchst, du schneidest dir die FuÃnägel mit einem
Handtuch als Unterlage.
â Ohne die Kinder, nur wir beiden, vielleicht eine Stadt von früher,
dein Studienort, ein Urlaubsort oder etwas ganz Neues, wir entdecken eine
Stadt.
Da fängst du an zu lachen, aber nicht in den Schwarzwald.
Ich balle die Fäuste vor Freude: nicht in den Schwarzwald, aber
woandershin, wir tun es, wir machen eine Reise, und ich werde sie planen, an
alles denken, gutes Essen, ein bisschen Natur, aber nicht zu viel, ein paar
Bäume für Spaziergänge oder Meer, was meinst du, Mama. Am Strand entlang langsam
gehen, Hand in Hand, Muscheln aufheben. Eine Glücksreise für uns beide, eine
Liebesreise, eine
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