Chronik der Nähe
weiÃt doch, dass ich alles selbst bezahlen muss.«
»Aber den Besuch bei der eigenen Mutter nicht einplanen«, seufzt
Mutter, »ganz zu schweigen vom Onkel, der sehr stolz auf dich ist und
vielleicht bald gehen muss.«
»Wieso bald gehen«, fragt Annie verwirrt, »wohin denn gehen«, aber
dann versteht sie und verstummt.
»Ja ja«, sagt Mutter streng, »mal an andere denken schadet auch in
deinem Alter nicht.«
»Mutter, ich habe doch schon hin und her gerechnet«, erklärt Annie
aufgeregt, »ich habe euch doch gar nicht vergessen, es geht vielleicht einmal
im Monat, vielleicht.«
Nun wird die Mutter höhnisch. Sie steht auf, holt den Müllsack aus
dem Eimer, und schon an der Tür spottet sie, »aber dein kleiner Liebesdiener,
der kommt dich dann besuchen, was.«
»Mutter, du kannst mich doch auch besuchen, jederzeit, in dem
Wohnheim gibt es Gästezimmer, du kommst auf ein Wochenende, und wir machen uns
schöne Tage.«
»Aber zum Müllruntertragen gut genug«, murmelt Mutter.
»Lass doch den Müll, ich trage ihn gleich runter.«
Annie springt zu Mutter und will ihr den Müll aus der Hand nehmen,
sie rangeln, und plötzlich reiÃt die Tüte. Kartoffelschalen, feuchter Staub von
der Treppe, zerrissenes Papier und Eierschalen prasseln klumpenweise auf den
Boden. Mutter lässt alles fallen, weicht an die Tür zurück und schreit gellend,
als wäre ihr etwas Furchtbares zugestoÃen. Annie eilt umher, klaubt den Dreck
vom Boden, holt eine neue Tüte, »nichts passiert, Mutter, gleich ist alles
erledigt«, sagt sie leise und wütend.
Als Annie mit dem Koffer die Treppe hinuntergeht, ist Mutter
gleich hinter ihr. »Die Wäsche schickst du bitte«, sagt sie, »ich stopfe dir
auch alles.« »Das kann ich doch selbst«, sagt Annie,
aber weil sie sich auf den Stufen nicht umdrehen kann mit dem schweren Koffer,
spricht sie ins Treppenhaus hinein, und Mutter versteht sie nicht und redet
einfach weiter auf ihren Kopf herunter, »und wenn du dem Onkel Hermann
gelegentlich schreibst, das wäre schon wichtig, und mir brauchst du nicht zu
schreiben, viel Zeit wirst du ja gar nicht haben.«
»Doch«, sagt Annie, »natürlich hab ich Zeit für Briefe.«
»Versprich nichts«, ruft Mutter, »was du dann nicht halten kannst«,
und da steht auch schon das Auto der Bekannten, die zufällig die gleiche Richtung
hat und Annie mitnehmen kann, schon eine Fahrt gespart, das fängt gut an, so
muss man es machen, ein langer Kuss auf den Mund, Mutters Tränen laufen nicht
einfach die Backe herunter, sondern spritzen heraus und sind überall, gar nicht
erst wegwischen, gleich kommen noch einmal so viele, »so ist das«, weint
Mutter, »wenn die Tochter geht, du wirst es selbst erleben.«
Ein Wohnheim mit lauter Mädchen wie Annie, ein Zimmer zusammen mit
Ingrid, im nächsten Semester Dorothea, dann Elisabeth, Gisela, alle sind schmal
und ordentlich, die Kleider gefaltet im gemeinsamen Schrank, die Lebensmittel
von zu Hause im Koffer unter dem Bett, es gibt richtig viel Platz. Die
Schwestern passen auf, dass sich alle vertragen, und schlieÃen abends die Türen
zu. Annie hat einen verbotenen Nachschlüssel, den teilt sie sich mit Ingrid.
Sie lernt Sprachen und Wirtschaft, Steno und Buchhaltung, sie lernt leicht und
viel, sie wäscht ihre Unterhosen im Waschbecken und stopft ihre Socken und
Ingrids gleich mit, die ihr dafür von der Leberwurst von daheim abgibt, es geht
gut, und die Briefe an Mutter schreibt sie im Wirtschaftsseminar, da versteht
sie sowieso nichts. Die Jungs kommen von allein, sie warten auf Annie und
Ingrid und fahren sie in ihren Autos herum, sie sind lustig und höflich und
immer viele, sodass sich Annie nie entscheiden muss. Und wenn sie das
Abendessen verpasst, bewahrt Ingrid ihr ein Käsebrot auf, das sie unter Annies
Bett stellt, das kann sie essen, wenn sie zurückkommt, aber viel Hunger hat sie
nicht.
Im Sommer brät sie in einer dicken blau gestreiften Schürze, steif
vor Fett, auf dem Samstagsmarkt Würstchen, immer zwanzig in der Pfanne, und
wenn eins anbrennt, wird es ihr vom Lohn abgezogen und dem kleinen gelben Hund
hingeschleudert, den die Metzgerin lieb hat, weil sie keine Enkel hat, das
erzählt sie Annie in den wenigen Pausen, wenn sie zusammen rauchen, und fasst
den Hund hinter den Ohren und drückt zu, bis er quiekt.
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