Chronik der Silberelfen Bd. 1 - Zeit der Rebellen
ins Geäst einer großen Kiefer. Ich schaute hinunter auf die Lichtung und sah vor meinem geistigen Auge den Burghof.
Als ich alle Vorbereitungen getroffen hatte, kletterte ich wieder hinab, hängte den Beutel mit meiner letzten Mahlzeit an einen Ast auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung und stieg wieder auf den Baum. Bolzen um Bolzen feuerte ich auf das schaukelnde Ziel ab, bis das Mehl das Gras ringsum beschneite und der Leinenbeutel in Fetzen herabhing. Wenn ich die Entfernungen richtig abgeschätzt hatte, war meine Armbrust nun zu einer tödlichen Waffe geworden.
Wer hätte gedacht, dass man die Burgmauern erklimmen konnte. Andererseits hätte das auch niemand von der nördlichen Mauer gedacht, die unsere Festung umga b – bis ich sie irgendwann regelmäßig hinauf- und hinunterkletterte. Einer der Krieger meines Vaters hatte mich eines Tages dabei ertappt, wie ich mich wieder einmal an der Mauer entlanghangelte, um meinen häuslichen Pflichten zu entgehen. Er rief seine Kameraden herbei und alle sahen mir über die Brüstung gebeugt bei meiner Kletterei zu, bewarfen mich mit allem, was sie in die Finger bekamen, und schütteten sich aus vor Lachen. Als ich sicher am Fuße der Mauer angekommen war, klopfte ich mir die Haferfladenbrocken und den Pferdemist aus Haar und Kleidung, trat einen Schritt zurück und verbeugte mich vor meinen Zuschauern. Dann reckte ich ihnen beide Mittelfinger entgegen. Daraufhin gab es kein Halten mehr, sie johlten und pfiffen und waren außer sich vor Vergnügen. Ich war kleiner und leichter als die meisten von ihnen, und wann immer sie einen Kletterer brauchten, riefen sie nun nach mir. Ich konnte Griffe für Hände und Füße finden, wo jeder andere Sithe nur den Kopf geschüttelt hätte. Es gab immer irgendeinen Halt. Und bisher war ich der lebende Beweis dafü r – ich war noch nie abgestürzt.
Das alles rief ich mir ins Gedächtnis, während ich an diesem Abend die steile Burgwand hinaufstarrte. Einer der Clansmänne r – der einzige Wachmann an dieser Stell e – lag schnarchend zu meinen Füßen. Es war vorbei. Der Gefangene, den sie alle sterben sehen wollten, würde heute sterben, es gab für ihn keine Rettung. Selbst die angeheuerten Krieger hatten sich inzwischen in die Burg hineinbegeben, um beim Entfachen des Feuers zur Hand zu gehen und das Spektakel zu genießen. Ich hatte Fehler gemacht. Aber auch dem Priester konnten Fehler unterlaufen. Er hatte mich unterschätzt.
Den Gefallen, ihn zu unterschätzen, würde ich ihm nicht tun, nicht noch einmal. Ich schwor mir, dass ich nie wieder einen Fehler ein zweites Mal begehen würde. Alle meine Gedanken waren auf den Priester gerichtet, alle bis auf den einen, den er lesen konnte. Ich wusste zu jedem Zeitpunkt, wo er sich gerade befand, und ich sorgte dafür, dass er mich nicht wittern konnte.
Ich vergewisserte mich noch einmal, dass die Armbrust fest verschnürt auf meinem Rücken hing, und ließ dann meine Hand über das raue Mauerwerk gleiten. Schnell fand ich eine kleine Unebenheit. Ich hielt kurz inne, lehnte mich mit der Stirn gegen den kalten Stein, holte tief Luft und kam zur Ruhe. Dann griff ich beherzt in die winzige Scharte, suchte und fand eine zweite, höher gelegen e – und machte mich an den Aufstieg.
20. Kapitel
W arum haben sie ihn für einen Weg von nicht mal hundert Metern in einen Karren gepfercht? Damit man ihn sehen, ihn bespucken und mit Kot bewerfen und auf seinem langen Weg in die Hölle verwünschen kann?
Wahrscheinlich.
Der Priester hat die Menge nicht unter seiner mentalen Kontrolle, auch wenn es mir kurz so vorkommt. Es wäre sicher leichter zu verkraften gewesen. Aber nein, diese Meute handelt aus freien Stücken im Namen des Heils. Niemand befehligt ihre Gedanken, sie gehen von ganz alleine fehl. Ich könnte ganz bestimmt nicht so viele auf einmal beeinflusse n – nicht, dass ich das jemals gewollt hätte. Und auch der Priester, was immer er in Wirklichkeit auch sein mag, kann das nicht.
Er führt ihnen Conal vor und hat ihnen Dinge über ihn berichtet, von denen die meisten vermutlich nicht einmal wussten, ob sie sie hören wollten. Was sie sonst noch antreibt, ist der reine Blutrausch. Der Priester hat sein Werk getan, er kann sich lächelnd zurücklehnen. Inmitten der Meute steht das Mädchen mit dem schwarzen Zopf und den ernsten grünen Augen. Diesmal ist es keineswegs still. Es schreit sich den Hass aus dem Leib.
Der Priester verharrt im langen Schatten der
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