Chronik der Silberelfen Bd. 1 - Zeit der Rebellen
Burgmauer. Das speichere ich im Geiste ab. Ich versuche mich an etwas zu erinnern, was mich einmal jemand gelehrt hat vor langer Zeit, als ich das alles hier nur aus Schauermärchen kannte. Ich versuche mit aller Macht, es mir ins Gedächtnis zu rufen, aber stattdessen taucht bloß das Bild des Priesters vor meinem inneren Auge auf, der vor nicht mal drei Tagen im fahlen Licht aus dem Vogelbeerhain geritten kam. Ich erinnere mich an seinen nervösen Blick, an sein ironisches Lächeln. Und plötzlich fällt mir ein, was genau ich gesehen habe, auf einmal ist es ganz deutlich. Ich habe den Schatten gesehen, den die Sonne auf den Weg warf. Den Schatten, den das gesattelte Pony warf. Nur das Pony. Der Priester hatte keinen Schatten.
Es hatte keinen Schatten.
Conal ist ein lebender Toter, der zu seinem eigenen Todesfeuer humpelt.
Ich schaffe das nicht allein. Der Priester späht gerade nicht nach meinem Geist. Vielleicht interessiert es ihn nicht mehr. Vielleicht ist er aber auch einfach so gefangen von dem bevorstehenden Spektakel, dass er sich auf nichts anderes konzentrieren möchte. Oder kann. Er ist ekstatisch, wie in Trance. Es , meine ich natürlich, es ist in Trance. Es geht darin auf. Es wurde für diesen Moment geboren. Man kann es ihm nicht einmal zum Vorwurf machen.
Es schaut nicht zu mir, deswegen kann ich ein letztes Mal mit meinem Bruder kommunizieren. Ich kann ihm sagen, dass ich ihn nicht im Stich gelassen habe, dass ich nicht versagt habe, dass die dunkle Verzweiflung, die sich mit dem Verdecken des Gitters über ihn gesenkt hat, nicht das Ende gewesen ist. Endlich, am Ende seines Leben s – und vermutlich auch des meine n –, habe ich etwas richtig gemacht, und ich habe es für ihn getan. Ich habe mich für all die Dinge revanchiert, die er für mich getan hat, seit ich acht Jahre alt war.
Ich kneife angestrengt die Augen zusammen und öffne sie wieder. Meine Sicht verschwimmt, ich muss mich konzentrieren. Vielleicht entscheide ich mich deshalb um. Es tut mir leid für das Mädchen, aber es muss zuerst Conal sein. Ich kann nicht riskieren, dass meine Augen mich vor lauter Trauer und Schwäche im Stich lassen. Es muss jetzt sein, und Conal kommt vor dem Mädchen an die Reihe. Tut mir leid, wie immer du auch heißen magst. Catriona. Um dich kümmere ich mich später. Zuerst ist mein Bruder dran. Er ist schließlich schon tot. Er ist schon tot.
Als mein Finger sich um den Abzug krümmt, ist mein Geist ebenso kalt wie mein Herz.
„Was, in Gottes Namen, ist hier los?“
Teil 3: Die Brandfackeln
21. Kapitel
S o viele Jahre. So viele Jahre sind seitdem vergangen, aber immer noch träume ich davon, dass mein Finger den Bruchteil einer Sekunde schneller am Abzug wäre, und wache schreiend auf.
In der Dunkelheit taste ich nach der Frau, die neben mir liegt, nach der anderen Hälfte meiner Seele und meines Ichs. Sie umarmt mich, tröstet mich in den Schlaf. Sie glaubt, ich würde von einer ganz anderen Zeit träumen, von Schreckensvisionen, die noch in der Zukunft liegen. Manchma l – of t – hat sie Recht damit. Manchmal auch nicht.
Sie weiß natürlich, dass ich beinahe einen Mann getötet hätte, den sie einst liebte. Wir beide hatten schon so viele Frauen geliebt, aber sie war anders. Sie ist es noch immer. Ich musste zu lange auf sie warten. Viel zu lange. Das Schicksal ist grausam.
Das stimmt nicht, an jenem Tag war es mir gnädig. Jenem Tag, an dem ich meinen Bruder nicht umbrachte. Aber ich hätte es fast getan, und das Schicksal hatte Freude daran, mir das immer wieder vor Augen zu führen. Kurz vor der Morgendämmerung.
Ich erzähle ihr nicht, wenn ich von seinem Tod träume. Es spielt ohnehin keine Rolle. Ich kann unter vielen Albträumen auswählen. Sie muss gar nicht wissen, für welchen ich mich entscheide. Sie soll nur wissen, dass sie mein Schutzwall gegen diese Träume ist. Mehr nicht. Und das weiß sie auch.
Hufgetrappel dröhnte über den Burghof, Pferde wieherten, Schwerter wurden klirrend aus der Scheide gezogen. Der Mann auf dem grauen Hengst kam mir bekannt vor, aber ich konnte ihn nicht sofort einordnen. Er war elegant gekleidet, eine stattliche Erscheinung, trug aber den Schmutz einer langen Reise an sich. Er strahlte die Art unbarmherziger Kampfeslust aus, die ein Krieger vom Schlachtfeld mitbringt. Die dreiundzwanzig Berittenen, die ihm mit gezogenen Schwertern folgten, verströmten eine ähnliche Aura.
Stille hatte sich über den Burghof gesenkt, nur das erstickte
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