Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
sieht schlimmer aus, als es ist.«
Andrej war ein wenig überrascht, dass Scalsi ihm beistand. Corinnas zweifelnder Blick machte auch klar, was sie von dieser Behauptung hielt.
»Ein Unfall?« Sie sah auf Claudios blutverschmiertes Gesicht hinab, das selbst jetzt noch, da er bewusstlos war, vor Schmerz zuckte und bereits anzuschwellen begann, dann maß sie Andrej mit einem sehr langen, von einem kritischen Stirnrunzeln begleiteten Blick und verzog spöttisch die Lippen.
»Ein Unfall«, sagte sie noch einmal. »Er muss wirklich schlimm gewesen sein, Andrej. Bist du in ein Messer gefallen – ungefähr zwei Dutzend Mal?«
»Aber es war wirklich nur –«, begann Scalsi, aber Andrej brachte ihn mit einer raschen Geste zum Verstummen.
»Ich glaube, es hat keinen Sinn, der Contessa etwas vormachen zu wollen, Dottore«, sagte er, zwar an Scalsi gewandt, aber ohne Corinna auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, und, ganz wie er es erwartet hatte, fuhr sie beim Klang des Wortes Contessa leicht zusammen. »Es gab … da wohl ein kleines Missverständnis.«
»Missverständnis?« Corinnas Stirnrunzeln vertiefte sich noch. »Mit Messern?«
»Wir sind überfallen worden«, sagte Scalsi. »Wenn Signore Delãny nicht gekommen wäre, dann wären wir jetzt vielleicht tot.«
»Überfallen? Von wem?« Corinna war nicht die Einzige, die Scalsi ehrlich überrascht ansah. Andrej hatte sich auf dem Weg zur Kapelle den Kopf zerbrochen, um sich eine Ausrede für seinen unübersehbaren Zustand einfallen zu lassen, die auch nur einen Hauch von Glaubwürdigkeit besaß, hatte aber keine gefunden, und dass es nun ausgerechnet Scalsi war, der seinetwegen log, erstaunte ihn. Falls er es tat. Wenn, dann war er sehr überzeugend.
»Das weiß ich nicht, Contessa«, behauptete Scalsi. »Sie waren zu zweit, und sie haben nichts gesagt. Vielleicht Räuber, die auf unsere Wertsachen aus waren.«
Corinna sagte nichts, aber Andrej konnte sich denken, was sie von der Behauptung hielt, es gäbe Räuber, die die Trauernden auf einem Armenfriedhof überfielen, noch dazu an einem Tag wie heute. Sie maß den Dottore nur mit einem langen, strafenden Blick, der auf seine Art mehr ausdrückte, als alle Worte es hätten tun können. Dann sah sie angestrengt in die Dunkelheit hinter ihnen und wandte sich schließlich ganz zu Andrej um. Sie musterte seine Hände und sein Gesicht, auf denen nicht nur Claudios Blut allmählich einzutrocknen begann, und seine zerfetzte Kleidung, und Schrecken verdrängte den Ärger in ihren Augen.
»Keine Angst!«, sagte Andrej rasch. »Mir ist nichts passiert.«
Corinna hatte sichtlich Schwierigkeiten, das zu glauben. Ihre Finger zeichneten den langen Riss in seinem Mantel nach und tasteten schließlich über seine Jacke, wo die Dolchklinge seinen Arm durchbohrt hatte. Der Stoff war – auf beiden Seiten – zerfetzt und immer noch nass von seinem Blut, und nun erschien etwas vollkommen Neues und fast Beunruhigendes in ihren Augen. Selbst in der nächtlichen Dunkelheit musste sie erkennen, dass die Haut darunter unversehrt war. »Ich hatte Glück«, sagte Andrej hastig. »Es waren Dummköpfe, die nicht mit einer ernsthaften Gegenwehr gerechnet haben.«
»Glück?« Corinna sprach das Wort auf eine Art aus, als höre sie es zum ersten Mal.
»Vielleicht mehr als nur Glück«, antwortete er mit einem schiefen Lächeln. »Vielleicht hat Gott ja seine schützende Hand über mich gehalten, weil er der Meinung war, dass für einen Tag genug Blut geflossen ist.«
»Du bist nicht verletzt?«, vergewisserte sie sich, in einem Ton, der ihm klarmachte, dass das Thema damit noch nicht ausgestanden war.
»Nicht einen Kratzer«, bestätigte Andrej.
»Das … fällt mir schwer zu glauben, Signore Delãny«, murmelte Corinna, warf noch einen Blick auf seinen Arm und gab sich dann sichtbar einen Ruck, um mit einem nervösen Lächeln und veränderter Betonung fortzufahren: »Ich werde später nachsehen, ob das stimmt. Sehr gründlich.«
Kapitel 15
Es war der letzte Traum von seinem toten Sohn, den er in diesem Haus haben würde, aber auch der schlimmste. Wie immer war er sich bewusst, nur zu träumen, und wie immer nahm dieses Wissen dem Nachtmahr nichts von seinem Schrecken. Die Ereignisse der zurückliegenden Nacht fügten dem Horror nur noch eine neue Facette hinzu, begann er doch zu ahnen, bisher nur an der Oberfläche des Entsetzens gerührt zu haben, ohne von den Abgründen, die tief darunter lauerten, etwas zu
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