Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
Mit seinem gewaltigen schwarzen Turban berührte er fast die Decke, und seine mächtigen Pranken sahen so aus, als könne er mit ihnen die Köpfe der beiden Burschen umschließen, wenn es sein musste. Außerdem strahlte er einen stillen Zorn aus, der jeden in seiner unmittelbaren Nähe instinktiv auf Abstand gehen ließ.
Andrej schob Gina einfach zur Seite und wandte sich an den elegant gekleideten Mann. Dessen Hände kneteten die Krempe eines vornehmen Hutes, als versuche er mit aller Kraft, sie abzureißen, doch seine Nervosität war nur gespielt.
»Ich bin Andrej Delãny«, sagte er. »Und das ist Abu Dun. Ihr wolltet uns sprechen, mein Freund?«
Der »Freund« kam bei seinem scheinbar ängstlichen Gegenüber offensichtlich nicht besonders gut an, denn er begann jetzt, auch noch unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten. Einer der Gendarmen – oder was immer sie auch sein mochten – setzte dazu an, die Muskete von der Schulter zu nehmen, besann sich aber hastig eines Besseren, als Abu Duns linke Augenbraue weit genug an seiner Stirn nach oben rutschte, um fast unter seinem Turban zu verschwinden.
»Verhaftet ihn!«, wiederholte Gina. »Der schwarze Teufel da hat meinen Mann umgebracht!«
»Deinen Hund nicht zu vergessen«, fügte Abu Dun hinzu. Andrej wünschte, er hätte das nicht gesagt.
»Ist das wahr?«, fragte ihr Besucher. Er hatte aufgehört, seinen Hut zu malträtieren, und sah Andrej fest in die Augen.
»Diese Entscheidung überlasse ich Euch, Signore …?«
»Rezzori«, antwortete der Mann. »Frederico Rezzori. Ist es wahr, was die Signora behauptet?«
Andrej wedelte mit der Hand. »Entscheidet selbst. Wenn Abu Dun den Mann dieser Signorina tatsächlich umgebracht hätte, glaubt Ihr wirklich, wir wären dann noch hier?«
Rezzori maß Abu Dun mit einem langen abschätzenden Blick.
»Ich verlange, dass Ihr ihn festnehmt!«, beharrte Gina.
Rezzori seufzte. Andrej sah ihm an, dass er sich weit weg von hier wünschte, sehr weit weg. »Vielleicht sollten wir uns alle erst einmal beruhigen«, schlug Rezzori vor – obwohl sich mit Ausnahme Ginas eigentlich niemand wirklich echauffierte. »Immerhin sind es schwere Vorwürfe, die man dagegen Euren Freund erhebt, Signore Delãny.«
Andrej machte eine Geste Richtung Tisch, auf dem noch die Reste des gestrigen Gelages standen. »Warum setzen wir uns nicht und besprechen die ganze Angelegenheit in Ruhe?«
»Den Teufel werde ich tun und mich mit diesem gottlosen Heiden an einen Tisch setzen!«, begehrte Gina auf. »Ich verlange, dass er auf der Stelle festgenommen wird! Er gehört ins Gefängnis oder besser gleich auf den Scheiterhaufen!«
Abu Dun maß sie mit einem langen Blick. »Kennst du zufällig eine gewisse Schwester Innozenz«, fragte er, »oder bist du gar mit ihr verwandt?«
Andrej sah kurz zur Treppe, obwohl er nicht damit rechnete, dass Corinna ihm nachkam. Auch wenn es sein sonderbarer Besucher bisher nicht für nötig befunden hatte, sich richtig vorzustellen, so war ihm doch klar, dass er es mit dem Vertreter einer Behörde oder öffentlichen Institution zu tun hatte, dem natürlichen Feind also von Frauen wie Corinna – solange er ihre Dienste nicht selbst in Anspruch nahm, verstand sich.
»Verhaftet ihn!«, verlangte Gina erneut. »Legt ihn in Ketten, auf der Stelle!«
»In Ketten legen«, wiederholte Abu Dun. Er musterte die beiden Soldaten herablassend. »Warum versucht ihr es nicht?«
Rezzori seufzte wieder, dann wandte er sich an seine beiden Begleiter: »Geleitet die Signora hinaus«, wies er sie mit einer entsprechenden Geste an, »und wartet dort. Es dauert nicht lange.«
Die beiden Männer nahmen die heftig protestierende Gina in die Mitte und führten sie aus der Gaststube, unübersehbar froh, Abu Duns Nähe zu entkommen. Als die Tür laut hinter ihnen zufiel, atmete Rezzori tief durch und drehte sich zu Andrej um. Er schwieg, und das so lange, bis Andrej verstand.
»Gehst du nach oben und holst unser Gepäck, Abu Dun?«, bat er. »Es wird bald hell, und ich möchte pünktlich aufbrechen.«
Zu Andrejs Erstaunen drehte Abu Dun sich ohne den mindesten Widerspruch um und ging die Treppe hinauf.
Rezzori wartete, bis er ihn außer Hörweite glaubte, und sagte dann ruhig: »Das ganze Haus ist umstellt, Signore.«
»Und Ihr meint, das wäre nötig?«
»Sagt Ihr es mir«, verlangte Rezzori.
Andrej schüttelte den Kopf. »Nein.« Sollte Rezzori diese Antwort doch selber deuten. Doch der erwiderte nichts, sondern
Weitere Kostenlose Bücher