Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
wissen.
Er stand in seinem Zimmer am Fenster, durch das er im Traum nicht den Himmel sah, sondern die Straße. Von unten sah Marius zu ihm herauf, umgeben von Dunkelheit, sodass Andrej sein Gesicht nicht wirklich erkennen konnte. Trotzdem wusste er, dass er es war. Die Straße war auf unheimliche Weise lebendig geworden, bewegte sich in alle Richtungen zugleich, beobachtete ihn aus Millionen funkelnder schwarzer Augen.
Du hast gedacht, ich finde dich nicht, wisperte die Stimme hinter seiner Stirn. Aber du kannst dich nicht vor mir verstecken. Ich habe dich gefunden. Und jetzt wirst du lernen, was Ewigkeit bedeutet. Sie dauert lange, Vater. So unendlich lange.
Auch jetzt wollte er wieder schreien und konnte es nicht. Die kindergroße Gestalt mit dem weißen Haar kam näher, ohne sich zugleich von der Stelle zu rühren. Die lebendig gewordene Straße aus zitterndem Braun teilte sich vor ihren Füßen und schloss sich hinter ihr wieder, brodelnd und raschelnd und an Mauern und Türen scharrend. Er konnte ihr Gesicht jetzt deutlicher erkennen, obgleich es übersät war mit schwarzen, krabbelnden Wesen, die sich in seine Haut und das zerfallende Fleisch darunter fraßen. Der Gestank von Verwesung und Fäulnis wehte durch das geschlossene Fenster zu ihm herauf und nahm ihm den Atem. Hautfetzen und Fleisch lösten sich in großen Brocken von Gesicht und Händen der entsetzlichen Gestalt, und das einstmals so schöne Haar fiel in Strähnen aus, die sich auflösten, noch bevor sie den Boden berühren konnten. Sein Sohn Marius hatte dieses Haar nie gehabt, so wenig wie das engelsgleiche Gesicht, das diese zerstörte Fratze einmal gewesen war, doch der Traum vermischte nicht nur Realität und Wahnsinn, sondern zeigte zugleich auch die Wahrheit hinter den Dingen. Denn der Körper, den er in das Grab gelegt hatte, war schon vor Jahrhunderten zerfallen.
Auch das Ding, das an seiner Stelle aus dem Grab herausgekrochen war, zerfiel, und für einen Augenblick klammerte er sich mit der Kraft der Verzweiflung an die Hoffnung, dieses Martyrium würde enden, sobald die geträumten Würmer den geträumten Körper zur Gänze aufgezehrt hatten, doch dann hörte er ein böses Lachen. Wenn die Ewigkeit endet. Und nicht einmal dann. So lange werde ich bei dir sein. Du musst keine Angst vor der Einsamkeit haben, Vater. Ich werde sie mit dir teilen. Die Ewigkeit und einen Tag.
Die Gestalt und die lebende Straße zu ihren Füßen kamen näher, und dann war das Fenster plötzlich verschwunden, und eine massive Wand aus schwarzen Steinquadern nahm seinen Platz ein. Es war vollkommen dunkel. Nicht ein einziger Lichtstrahl durchbrach die Schwärze, und dennoch (und ohne sich umdrehen zu müssen) sah er, dass sich auch die übrigen Wände in schwarzes Mauerwerk verwandelt hatten, ohne Fenster und Türen, ohne auch nur einen Spalt, der breit genug gewesen wäre, eine Messerklinge hineinzuschieben, und dasselbe galt auch für Boden und Decke.
Die Ewigkeit, Vater. Und einen Tag.
Die Wände begannen, sich auf ihn zuzubewegen, und die Decke senkte sich, lautlos und so langsam, dass es weder zu hören noch wirklich zu sehen war. Sein Herz begann zu rasen. Saurer Speichel sammelte sich unter seiner Zunge. Die Schatten rückten näher, erdrückten ihn, ohne dass er erkannte, woher sie kamen. Andrej wusste, was Angst war, und er vermochte nicht nur damit umzugehen, sondern sich ihre Kraft sogar zunutze zu machen. Aber diese körperlose Finsternis und das bloße Wissen um die näher kommenden Wände waren mehr, als er ertrug. Er hätte geschrien, hätte der Traum ihm nicht die Gewalt über seine Stimme und den Rest seines Körpers genommen und ihn dazu verdammt, hilflos dazustehen, dem Gefühl, bei lebendigem Leibe begraben zu werden, ausgeliefert, für die Ewigkeit und noch einen Tag.
Ich komme zu dir, Vater. Du brauchst die Einsamkeit nicht zu fürchten.
Da war ein bleicher Schemen, der plötzlich in der Dunkelheit erschien, flackernd wie ein Gespenst aus sterbendem Licht, und dann zu einer schmalen Gestalt mit blutverkrustetem weißem Haar und einem zerstörten Gesicht wurde und, genau wie die Wände, näher kam, ohne sich wirklich zu bewegen. Du musst die Einsamkeit nicht fürchten, Vater. Ich komme zu dir.
Und das tat er. Gelähmt vor Schrecken, außerstande, auch nur einen Finger zu rühren oder zu schreien, musste Andrej zusehen, wie die Traumgestalt auf ihn zuraste. Auf einmal war ihr schreckliches Gesicht dem seinen so nahe, dass er den mit
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