Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
ist immer noch keine Antwort auf die Frage, wer du wirklich bist.«
»Soweit ich mich erinnere, hast du sie noch gar nicht gestellt«, antwortete sie.
Und das tat Andrej auch jetzt nicht, jedenfalls nicht sofort. Stattdessen lehnte er sich auf der bequem gepolsterten Bank zurück und betrachtete sie aufmerksamer. Das Mädchen hatte sich verändert, so sehr, dass er es vielleicht nicht einmal erkannt hätte, wäre es auf der Straße an ihm vorbeigegangen. Die ihm wohlbekannten unzähligen verspielten winzigen Löckchen waren heute anders frisiert und wurden von einem schmalen Diadem gebändigt, in dem kostbare Edelsteine glitzerten. Corinna trug ein elegantes Kleid mit ebenso aufwendigen wie teuren Stickereien, das ihm aber vor allem auffiel, weil es das mit Abstand züchtigste Kleidungsstück war, in dem er sie jemals gesehen hatte. Darüber lag ein noch kostbarerer Mantel. Ganz offenbar zeigte sie den Reichtum ihrer Familie gern.
»Gefällt dir, was du siehst?«, fragte sie.
»Dein Kleid?« Andrej schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Soll ich es ausziehen?« Corinna lächelte.
Andrej blieb jedoch ernst. »Eigentlich habe ich nur eine einzige Frage, Signorina«, sagte er übertrieben förmlich. »War das alles nur ein Spaß für dich?«
»Spaß gemacht hat es auch, ja«, sagte Corinna. Andrej verspürte einen Stich.
»Wolltest du nur einmal ausprobieren, wie es mit einem Barbaren ist?«, fragte er spröde und ganz bewusst mit der Absicht, sie zu verletzen.
Allerdings gelang es ihm entweder nicht, oder sie war eine noch sehr viel bessere Schauspielerin, als er ohnehin schon glaubte. Sie machte zwar ein betroffenes Gesicht, doch ihre Augen funkelten spöttisch. »Für einen Mann mit so vielen Geheimnissen reagiert Ihr ziemlich empfindlich, wenn auch andere welche haben, Signore«, sagte sie spitz.
»Du weißt nicht, worauf du dich da eingelassen hast, Corinna«, sagte er. »Abu Dun und ich spielen hier kein Spiel.«
»Genauso wenig wie ich«, antwortete sie. »Falls es deinem angeschlagenen Stolz hilft, Andrej – ich wusste vom ersten Moment an, wer du bist.« Sie beugte sich vor, um nach seiner Hand zu greifen, doch Andrej zog sie schnell zurück. »Und immerhin habe ich dir geholfen – nur falls du vergessen haben solltest, wer dich zum Dottore und damit zu deinem Sohn geführt hat.«
Das hatte er nicht. »Und meine nächste Frage wäre gewesen, warum du das getan hast?«, sagte er.
»Und ich beantworte sie dir auch«, erwiderte Corinna. »Genau wie alle anderen. Aber nicht hier. Wenn wir in unserem Palazzo sind –«
»Dafür habe ich keine Zeit«, fiel ihr Andrej ins Wort. »Ich muss zu Scalsi. Abu Dun und ich verlassen die Stadt heute noch, und wir nehmen Marius mit.«
Corinnas Blick verdüsterte sich für einen Moment, aber sie hatte sich auch fast sofort wieder in der Gewalt. »Es ist kein großer Umweg«, sagte sie. »Dort zeige ich dir etwas, und ich möchte, dass du mit jemandem redest. Wenn du danach immer noch gehen willst, dann lasse ich dich zu Scalsis Spital bringen. Und ich sorge auch dafür, dass man deinen Freund freilässt.«
Womit sie zugab, dass das auch schon jetzt in ihrer Macht stünde, aber Andrej verzichtete darauf, diese Erkenntnis laut auszusprechen.
»Eine Stunde, länger dauert es nicht. Du brauchst mehr Zeit, wenn du zu Fuß zum Arsenale gehst.«
»Und wenn ich dein Angebot ausschlage, dann muss ich zu Fuß gehen?«
»Aber das wäre doch ziemlich albern, oder?«, fragte Corinna.
»Und außerdem auch noch kindisch und ziemlich dumm«, bestätigte Andrej.
Corinna machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ja, das klingt, als könnte es mir gefallen.«
»Also gut.« Andrej seufzte. Tief. »Eine Stunde. Aber keinen Augenblick mehr.«
Corinna hatte, wie Andrej feststellte, die Wahrheit gesagt: Der Palazzo ihrer Familie war tatsächlich nur einige Minuten entfernt. Andrej blieb nur wenig Zeit, das beeindruckende Gebäude zu bewundern, denn die Gondel fuhr nur noch ein kurzes Stück auf dem breiteren Wasserweg und bog dann in einen Kanal ein, der an jeder Seite vielleicht noch einen Fingerbreit Platz bot -Andrej vermutete, dass die Gondel eigens gebaut worden war, um ihn gerade noch befahren zu können –, und glitt dann durch ein mit Schnitzereien reich verziertes Tor, das sich hinter ihnen wie von Geisterhand wieder schloss.
Andrej zeigte sich angemessen beeindruckt, was nicht einmal zur Gänze geschauspielert war. Das Boot glitt in ein mit Marmor eingefasstes Becken und
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