Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
der Gewalt, auch wenn ihn das Gefühl zutiefst erschreckte, denn es war ihm fremd und vertraut zugleich. Er spürte die Nähe eines anderen Unsterblichen wie das unendlich sanfte Tasten einer Hand, die ihn tief am Grunde seiner Seele berührte. Er unterdrückte den Impuls, sich suchend umzublicken. »Und vertraust du ihm?«
»Was für eine Frage. Ich würde ihm, ohne zu zögern, mein Leben anvertrauen!«
Wenn man es genau nahm, dann hatte sie das bereits getan, dachte Andrej, sparte es sich aber, sie darauf hinzuweisen. Das körperlose Tasten und Suchen war nach wie vor da, noch weit entfernt, gerade am Rande des Wahrnehmbaren, aber präsent. Und es kam näher. Langsam. Ihm blieb noch weniger Zeit, als er ohnehin gefürchtet hatte. Er nippte an seinem Wein, stellte das Glas dann mit einer übertrieben präzisen Bewegung auf den Tisch zurück und stand auf.
»Wohin gehst du?«, fragte Corinna. »Du willst doch nicht etwa den armen Mario unnötig erschrecken?«
»Bestimmt nicht.«
»Dann macht es dir doch auch nichts aus, wenn ich mitkomme.« Sie machte Anstalten, sich ebenfalls zu erheben, doch Andrej hielt sie rasch zurück.
»An den einzigen Ort, wo ich dich nicht dabeihaben will«, sagte er, »und auch sonst niemanden. Ich nehme an, es ist dort drinnen?«
»Mario wird es dir zeigen«, antwortete Corinna. Gehorsam ließ sie sich wieder zurücksinken und zog eine amüsierte Grimasse. »Manche Dinge ändern sich wohl nie, egal, wie alt man wird?«
»Nein«, antwortete Andrej knapp. »Warte hier auf mich.«
Er hielt noch einmal inne, um ihr scheinbar zuzublinzeln, nutzte die Gelegenheit aber zugleich, um mit dem Blick möglichst unauffällig über die Menschenmenge hinter ihr zu wandern. Sie war bunt und groß, und so sehr sie ihn vor einem Augenblick noch beunruhigt hatte, so sehr begrüßte er die große Zahl von Menschen nun, gab sie zwar nicht ihm, aber zumindest ihr ein Minimum an Schutz vor Entdeckung.
Zumindest auf den ersten Blick konnte er nichts Auffälliges entdecken. Schon gar keine hünenhafte Gestalt in Schwarz.
Aber was bedeutete das schon?
Rasch betrat er das Gasthaus und fand sich in einem unerwartet kleinen und hoffnungslos mit Tischen und niedrigen dreibeinigen Schemeln vollgestellten Schankraum wieder, dessen gesamte rechte Seite von einer wuchtigen Theke eingenommen wurde. Dahinter stand der Wirt und scheuchte mit hektischen Bewegungen und leicht hysterischer Stimme eine ganze Anzahl Bediensteter herum, unterbrach sich aber sofort, als er die Tür hörte und Andrej erkannte.
»Signore? Wenn Ihr –«
»Ich muss mit Euch sprechen«, sagte Andrej. »Allein.«
»Das ist jetzt vielleicht nicht –«, begann Mario, und Andrej unterbrach ihn erneut.
»Corinna sagt, Ihr wärt ein guter Freund ihrer Familie. Ist das wahr?«
»Selbstverständlich«, antwortete der Wirt beinahe empört.
»Dann müssen wir uns unterhalten«, sagte Andrej. »Aber nicht hier.«
Mario sah ihn jetzt misstrauisch an, aber offenbar war er nicht nur reinlicher als sein Andrej bekannter Kollege, sondern auch schwatzhafter. Er sah Andrej noch einmal stumm und durchdringend an, nickte dann knapp und wandte sich um, ohne sich davon zu überzeugen, dass Andrej ihm folgte.
Der Wirt führte ihn durch eine winzige Küche, in der nicht nur ein heilloses Durcheinander und große Geschäftigkeit herrschten, sondern auch eine erstickende Hitze, dann in eine fensterlose Kammer, die kaum groß genug für sie beide war. Er schloss die Tür hinter Andrej.
»Also?«
»Ich weiß, dass es Euch schwerfallen muss, mir zu glauben«, begann Andrej. »Ich bin ein Fremder für Euch, und wahrscheinlich sehe ich zurzeit nicht unbedingt vertrauenerweckend aus.«
»Das ist wahr«, sagte Mario, wobei er im Dunkeln ließ, welche von Andrejs Feststellungen er damit meinte.
»Ich muss Euch trotzdem bitten, mir zu vertrauen«, fuhr Andrej fort. »Es ist wichtig.«
»Für Euch oder für mich?«, fragte Mario. Er war mehr als einen Kopf kleiner als Andrej und bestand zu einem Gutteil aus wabbelndem Fett, wo sein Doppelgänger aus der Carampane wenigstens noch den Anschein von Muskeln aufwies. Aufmerksam musterte er nicht nur Andrejs beeindruckende Statur, sondern vor allem die Waffen an seinem Gürtel, aber Andrej las allenfalls einen gesunden Respekt in seinem Blick, keine Spur von Angst. Immer noch spürte er diesen Sog, der zwar nicht stärker geworden war, aber suchte, tastete …
»Ich habe nicht viel Zeit, deshalb kann ich nur hoffen,
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