Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
ernst zu nehmende Gegnerin gewesen, doch in einem so unmittelbaren Kräftemessen hatte sie nicht einmal den Hauch einer Chance. Andrej warf sich einfach zur Seite, begrub die Nubierin unter sich und stieß den Ellbogen zurück. Er spürte, wie mindestens eine ihrer Rippen brach und ihr die Luft zischend durch die zusammengebissenen Zähne entwich. Andrej widerstand dem Impuls, ein zweites Mal und noch härter zuzuschlagen und sie damit womöglich umzubringen, und riss sich stattdessen los, als ihre Kräfte nachließen. Mit einem gezielten Hieb gegen die Halsschlagader schaltete er sie endgültig aus, federte hoch und sah gerade noch, wie die zweite Kriegerin Corinna in eine schmale Gasse zerrte, wobei sie einen Mann, der ihr nicht schnell genug auswich, so derb gegen die Wand stieß, dass er bewusstlos zusammenbrach.
Andrej raste mit weit ausgreifenden Schritten hinter ihr her, glaubte, die schmale Lücke zwischen den Häusern nur wenige Augenblicke nach ihnen zu erreichen, und stellte zu seiner Überraschung fest, dass sie bereits am anderen Ende der Gasse verschwanden. Er rannte noch schneller und hätte sie zweifellos nach wenigen Schritten eingeholt, wäre nicht plötzlich eine dritte Gestalt in schwarzen Kleidern und mit ebenholzfarbenem Gesicht aus der Dunkelheit herausgetreten. Sie hob ein Schwert.
Meruhe ließ ihre Tarnung nicht einmal jetzt fallen. Wie nahezu jede ihrer Art vermochte sie ihre Anwesenheit vor anderen Unsterblichen zu verbergen, wenn sie sich nur hinlänglich genug darauf konzentrierte, und Andrej, der diese Technik ebenfalls beherrschte, wusste, welch große Mühe es ihr bereiten musste.
Nun, da er sie sah, gab es keinen Grund mehr für diese Anstrengung. Trotzdem behielt sie ihren Schutz bei, fast als fürchte sie die Anwesenheit eines weiteren Unsterblichen, der ihre Präsenz spüren mochte. Konnte es sein, dachte er, dass Abu Dun in der Nähe war?
Aber selbst wenn, wäre er ihm möglicherweise keine Hilfe gewesen, nach allem, was er in den letzten beiden Tagen mit ihm erlebt hatte …
»Meruhe, was tust du?«, fragte er verwirrt. »Was … was soll das? Was wollt ihr von Corinna? Sie ist eine von uns!«
Wie schon vor zwei Tagen auf der Friedhofsinsel bekam er keine Antwort. Doch dieses Mal sah er ihr Gesicht und die schreckliche Leere in ihren Augen. Meruhe schaute ihn an, und sie erkannte ihn und folgte aufmerksam jeder seiner Bewegungen, dennoch war es, als blicke er in die Augen einer Fremden. Da war nichts mehr von der Frau, die er einst geliebt hatte und mit der ihn seit mehr als einem Jahrhundert eine tiefe Freundschaft verband.
Plötzlich hatte er das Gefühl, dass alles einen Sinn ergab. Doch zugleich wurde es immer verwirrender, je angestrengter er über die zurückliegenden Ereignisse nachdachte. Einen schier endlosen Atemzug lang starrte er Meruhe an, dann verließ er die Gasse und ging zu der bewusstlosen Kriegerin zurück, hob ihren Krummsäbel auf und trat der nubischen Königin, die ihn erwartete, entschlossen entgegen. Rings um ihn gellten immer noch Schreie, und ihm war klar, dass es jetzt nur mehr Augenblicke dauern konnte, bis Rezzoris Männer oder irgendwelche anderen Ordnungskräfte auftauchen mussten. Aber zugleich war er auch sehr sicher, dass das gar keine Rolle mehr spielte. Was immer auch hinter diesem Geheimnis steckte, er würde es beenden. Jetzt.
»Gib den Weg frei«, sagte er. Meruhe reagierte nicht, und Andrej fuhr fort: »Ich weiß, dass ich dich wahrscheinlich nicht besiegen kann, aber ich werde es auf jeden Fall versuchen, wenn du mich dazu zwingst. Willst du wirklich, dass einer von uns stirbt?«
Meruhe antwortete auch jetzt nicht, aber nach einem weiteren, quälend langen Atemzug senkte sie das Schwert, wandte sich um und ging los.
Andrej folgte ihr. Auf halbem Wege warf er einen Blick über die Schulter zurück und stellte fest, dass er wohl doch nicht so hart zugeschlagen hatte, wie er meinte, denn die Kriegerin, die er ausgeschaltet hatte, folgte ihnen, wenn auch mit mühsamen und leicht torkelnden Schritten. In der panischen Menge hinter sich meinte er Metall aufblitzen zu sehen. Rezzori und seine Signori, da war er sich sicher. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit.
Die Gasse führte auf einen kleinen, schmutzigen Platz, der an einer Seite an die Lagune grenzte. Ein halbes Dutzend Boote schaukelte auf den schwarzen Wellen, und sie kamen gerade recht, um zu sehen, wie die Nubierin die noch immer verzweifelt strampelnde Corinna in eines der
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