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Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod

Titel: Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wlofgang Hohlbein
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selbst jeden Fetzen vom Leib reißt, den man ihm anzuziehen versucht, und demjenigen, der den Versuch wagt, auch gleich das Fleisch von den Knochen.«
    »Es ist eines Menschen nicht würdig, so leben zu müssen«, beharrte Abu Dun. »So würde ich nicht einmal ein gefährliches Tier halten!«
    Scalsis Gesicht verfinsterte sich. »Bist du Arzt, schwarzer Mann?«
    »Nein«, antwortete Abu Dun. »Ihr?«
    Jetzt flammte blanker Hass in Scalsis Augen auf. An Andrej gewandt sagte er: »Sagt Eurem Freund, dass es mir keine Freude bereitet, einen Menschen so zu sehen.«
    »Warum sagt Ihr es ihm nicht selbst?«
    »Ich habe den Eid des Hippokrates geschworen, Delãny«, fuhr Scalsi fort, seine Antwort und den dezent darin verborgenen Hinweis auf Abu Duns Existenz ignorierend, »und ich nehme diesen Eid ernst. Es bricht mir das Herz, einen Menschen so leiden zu sehen und genau zu wissen, dass es nichts gibt, was ich oder irgendein anderer Arzt auf der Welt für ihn tun könnte.«
    »Warum zwingt Ihr ihn dann, weiter so zu vegetieren?«, fragte Abu Dun.
    »Glaubst du nicht, ich hätte schon hundertmal daran gedacht, sein Martyrium zu beenden?«, fragte Scalsi bitter. »Aber wäre das eine Lösung?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einem heftigen Kopfschütteln. »Ich habe einen Eid geschworen, Leben zu bewahren, nicht zu zerstören.«
    »Das nennst du Leben?«, fragte Abu Dun.
    »Ich studiere ihn«, fuhr Scalsi unbeeindruckt fort. »Ich versuche, seine Leiden zu lindern, wenn ich ihn schon nicht heilen kann. Und wenn ich auch das nicht kann, dann kann ich ihn vielleicht untersuchen und so späteren Generationen von Ärzten ermöglichen, späteren Generationen von Kranken zu helfen.«
    »Wie nobel«, sagte Abu Dun.
    Scalsi schloss die Klappe, und aus dem Kettenrasseln und Kreischen des Wahnsinnigen wurde ein Wispern, das nur noch für Andrejs und Abu Duns scharfe Ohren zu hören war. Erst dann antwortete der Arzt: »Hör auf, von Dingen zu reden, von denen du nichts verstehst, schwarzer Mann!«
    »Aber tut das denn hier nicht jeder?«, erkundigte sich Abu Dun in nun beinahe liebenswürdigem Tonfall.
    Der Arzt starrte ihn an, setzte zu einer Antwort an und stürmte dann doch wortlos davon.
    Andrej betrachtete die anderen Türen. Nachdem Scalsi gegangen war und die Laterne mitgenommen hatte, erkannte selbst er nicht mehr als rechteckige Flecken, wie schwarze Schlünde in der Dunkelheit. Etwas Schreckliches lauerte an diesem Ort, das spürte er.
    »Hör endlich auf«, sagte Andrej müde. »Wir brauchen diesen Mann. Marius braucht ihn.«
    »Womit soll ich aufhören?«, fragte Abu Dun unschuldig. »Er hat gefragt, und ich habe geantwortet. Hätte ich den guten Dottore vielleicht belügen sollen?«
    Andrej gab auf und ging mit schnellen Schritten hinter dem Arzt her.
     
    Scalsis Arbeitszimmer befand sich noch eine Etage höher im letzten intakten Stockwerk des verfallenen Turms. Doch trotz der dicken Wände zog es erbärmlich, und die Kälte war längst hereingekrochen und ließ ihren Atem zu grauem Dampf vor den Gesichtern werden. Wie Corinna es gesagt hatte, verfügte der Raum über den Luxus eines Kamins, in dem ein knisterndes Feuer brannte. Aber es war viel zu klein, um der Kälte tatsächlich Einhalt gebieten zu können, und auch das wenige Licht, das die spärlichen Flammen verbreiteten, focht einen aussichtslosen Kampf gegen die Dunkelheit, die einfach zu diesem Gebäude zu gehören schien. Das einzige Fenster war mit einem groben Lappen zugestopft worden und ließ allenfalls eine blasse Ahnung des Tageslichts durch, das von außen gegen die uralten Mauern drängte.
    Schweigend hatte Scalsi sie heraufgeführt, und schweigend nahm er nun hinter einem Schreibtisch Platz, dessen gewaltige Ausmaße geradezu winzig wirkten, weil sie unter einem Wust aus Büchern, Pergamentrollen und eng bekritzelten Blättern verschwanden. Auch das Zimmer war zwar groß, wirkte jedoch klein, denn sein Bewohner hatte es bis in den letzten Winkel mit Regalen, Schränken und Tischen mit allerlei Krempel vollgestopft, dessen Zweck Andrej zum größten Teil nicht einmal zu erraten vermochte. Es gab keinen Besucherstuhl, sondern nur einen zusätzlichen Schemel vor dem Kamin, auf dem Corinna wortlos Platz genommen und die Hände ausgestreckt hatte, um sie über den knisternden Flammen zu wärmen. Andrej vermutete, dass ihr sonderbarer Gastgeber ihnen auch dann keinen Platz angeboten hätte, hätte es einen gegeben. Er trieb seine Unhöflichkeit

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