Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
hatten sie denn vor?«, erkundigte sich Andrej. Er sah Corinna immer noch fest an, lauschte aber auch aufmerksam auf jedes noch so winzige Geräusch hinter sich, bereit, sofort einzugreifen, sollte Abu Dun aufspringen, um etwas Dummes zu tun. Nicht dass er sich einbildete, ihn tatsächlich aufhalten zu können, wenn er es wirklich ernst meinte. Kein Mensch auf dieser Welt konnte das.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Corinna. »Ich wusste auch nicht dass …« Sie fuhr sich nervös mit dem Handrücken über das Kinn und kämpfte mit den Tränen. Dann sah Andrej ihr an, wie sie sich einen Ruck gab. Mit plötzlich fester Stimme sprach sie weiter.
»Ich kenne den Jungen nicht. Ich habe ihn heute das erste Mal gesehen. Aber ich habe von ihm und seiner Familie gehört.«
»Von wem?«, fragte Andrej. »Und was?«
»Was wird das jetzt?«, fragte Corinna. »Ein Verhör?« Ihre Augen blitzten zornig auf, doch der Ärger erlosch auch genauso schnell wieder, wie er gekommen war. »Verzeiht!«, sagte sie. »Ihr wärt beinahe getötet worden. Da habt ihr wohl ein Recht darauf, mir ein paar Fragen zu stellen.«
Andrej schwieg.
»Eines der anderen Mädchen hat mir von ihnen erzählt«, fuhr sie fort. »Sie sind Muschelfischer von einer der Inseln.«
»Von welcher?«, fragte Andrej, bekam aber nur eine Mischung aus Kopfschütteln und Schulterzucken zur Antwort.
»Das weiß ich nicht. Aber sie stellen seit Monaten Fragen.«
»Was für Fragen?«
Corinnas Blick huschte unruhig durch den Raum und wich nicht nur dem Andrejs aus, sondern vor allem dem Abu Duns. »Sie suchen nach zwei schwarzen Frauen. Frauen, die aussehen wie dein Freund. Aber ich wusste nicht, warum, bitte glaub mir. Niemand wusste es!«
»Anscheinend hat es ein Unglück gegeben.«
»Sie haben Baleans Vater getötet«, sagte Corinna. »Das hat mir Enrico gesagt, bevor sie weggegangen sind. Aber ich habe es vorher nicht gewusst, das müsst ihr mir glauben! Ich hätte euch niemals hergebracht, wenn ich das gewusst hätte!«
»Was hast du denn gewusst?«, fragte Andrej.
»Nur das, was ich gerade gesagt habe«, beharrte Corinna. »Ich wollte doch nur helfen!«
»Ja«, knurrte Abu Dun, diesmal auf Italienisch. »Das müsste von Rechts wegen auf einer ganzen Menge Grabsteine stehen.«
»Aber ich wollte wirklich nur –«, begann Corinna erneut, und Abu Dun unterbrach sie mit einem abfälligen Schnauben und streckte die Hand aus, um sich von Andrej aufhelfen zu lassen.
Andrej wusste nicht, ob er tatsächlich so schwach war oder sich nur so anstellte, um ihn zu ärgern, aber er musste jedes bisschen Kraft aufbieten, das er hatte, um den schwarzen Koloss auf die Beine zu ziehen.
»Und jetzt lass uns verschwinden«, sagte er. »Bevor uns am Ende wirklich noch jemand findet.«
»Da wäre nur noch eine Kleinigkeit.« Abu Dun schüttelte sich wie ein nasser Hund, sodass Corinnas Haar und Gesicht benetzt wurde und auch ihr Kleid einige Spritzer abbekam.
»Und was?«
»Unsere Waffen«, antwortete Abu Dun, Corinnas hochgezogene Brauen und ihren leicht vorwurfsvollen Blick ignorierend. »Sie liegen noch im Wasser.«
»Und?«
»Und ich habe für heute genug gebadet«, sagte der Nubier. »Und auch für morgen und den Tag danach und den darauffolgenden.«
Andrej seufzte und versuchte sich damit zu trösten, dass ihm wohl kaum noch kälter werden konnte, als ihm sowieso schon war.
Er täuschte sich.
Kapitel 8
Auch wenn er nur wenig Schlaf brauchte, wachte er doch am nächsten Tag erst gegen Mittag auf, mit dumpfen Gliederschmerzen, einem schlechten Geschmack im Mund und den Kopf voll wirrer Erinnerungen, die zum Großteil gar keine waren, sondern bloße Traumfetzen. Im ersten Moment und noch bevor er die Augen öffnete, empfand er nichts als eine absurde Erleichterung. Denn die Träume waren schlimm gewesen, hatten aber wenigstens nichts mit seinem Sohn zu tun gehabt, dafür umso mehr mit Kälte und Dunkelheit – und sehr viel Wasser.
Die Erleichterung hielt an, bis er die Augen aufschlug und feststellte, dass er wieder in seinem Zimmer war und die Sonne beinahe senkrecht am Himmel stand. Er hatte Mühe, sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war und was seither geschehen war oder ob überhaupt irgendetwas geschehen war, was das Erinnern lohnte.
Etwas kitzelte an seiner Wange. Andrej drehte den Kopf und sah, dass es etwas gab, an das er sich gern erinnerte, auch wenn es ihm zuerst nicht recht gelingen wollte.
Als hätte sie seinen Blick gespürt, schlug
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