Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
Corinna die Augen auf und schenkte ihm ein ebenso müdes wie warmes Lächeln.
»Und ich dachte schon, du wirst gar nicht mehr wach«, sagte sie. »Guten Morgen … auch wenn es ja eigentlich schon guten Tag heißen müsste.«
»Bist du schon lange wach und beobachtest mich?«, fragte er.
»Vielleicht eine Stunde«, antwortete Corinna, stützte sich auf den Ellbogen und strafte sich selbst Lügen, als sie die Zähne aufeinanderbiss, um ein Gähnen zu unterdrücken. Er konnte sehen, wie sich die Muskeln an ihrem Hals anspannten, und ihre langen tiefschwarzen Wimpern waren verklebt vom Schlaf.
»Und warum?«, fragte er trotzdem.
»Weil ich dich gerne betrachte«, antwortete das Mädchen. »Vor allem, wenn du schläfst.«
Andrej nickte und forschte in seinem Gedächtnis. Er wusste immer noch nicht, was Erinnerung an tatsächlich Geschehenes war und was bloßes Strandgut, das der Traum zurückgelassen hatte. Was war los mit ihm? War es etwa die Angst, in ein blasses Engelsgesicht mit weißem Haar und schwarzen Augen zu blicken, wenn er sich tatsächlich zwang, sich zu erinnern?
»Gibt es … irgendetwas, woran ich mich erinnern müsste?«, fragte er.
Corinna sagte erst gar nichts, dann zog sie einen Schmollmund und versetzte ihm einen derben Knuff mit dem Ellbogen, der wirklich wehtat – selbst ihm.
»He!«, protestierte er.
»Stell dich nicht so mädchenhaft an«, schalt ihn Corinna. »Für einen so großen, tapferen Krieger wie dich kann das doch nicht schlimm sein.«
»Auch große, tapfere Krieger spüren Schmerz«, sagte Andrej.
»Ich hoffe doch, Schmerz ist nicht alles, was sie spüren«, erwiderte Corinna.
»Hm«, machte Andrej.
»Hm?«, wiederholte das Mädchen, sah ihn so durchdringend an dass er ihrem Blick nur mit Mühe standhielt, und zog dann erneut eine beleidigte Schnute. »Also gut, das nehme ich dann mal als Kompliment«, sagte sie schließlich.
»Du bist … ein seltsamer Mann, Andrej«, fuhr Corinna fort.
»Ich weiß«, antwortete Andrej.
»Weil man dir das schon öfter gesagt hat, nehme ich an«, vermutete Corinna. »Aber das meine ich nicht. Du bist so ganz anders als die anderen.«
Andrej sparte sich die Frage, von welchen anderen sie sprach. »Weil ich nicht so gut bezahle?«
»Wenn man es genau nimmt, hast du gar nicht bezahlt«, erwiderte Corinna.
»Vielleicht nicht viel, aber –«
»Ich habe dir deinen Geldbeutel zurückgebracht«, erinnerte sie ihn. »Die beiden Münzen, die du mir am Abend zuvor gegeben hast, habe ich wieder hineingetan.«
»Weil ich so gut war?«
Corinna zog die linke Augenbraue hoch und verzichtete darüber hinaus darauf, seine Worte zu kommentieren. Sie deutete lediglich ein Kopfschütteln an, schlug die Decke ganz zurück und rollte sich kurzerhand über ihn hinweg, um aus dem Bett zu kommen und sich nach ihren Kleidern zu bücken. Andrej fiel erneut das wertvolle Collier auf, das sie trug, und das nicht minder kostbare Armband. Sie musste einige wirklich großzügige Kunden haben.
»Wo ist Abu Dun?«, fragte er. Er blieb auf der Bettkante sitzen, statt ganz aufzustehen, und konnte ein eisiges Frösteln nicht unterdrücken, als seine nackten Fußsohlen den Boden berührten. Das intensive Licht der Mittagssonne, das durch das Fenster über seinem Kopf hereinfiel, suggerierte eine Wärme, die es nicht gab. Er nahm auch noch Corinnas Decke und schlang sie sich um die Schultern, aber es half nicht viel. Die Kälte rief auch wieder die Erinnerung an die vergangene Nacht wach, den Kampf, das eisige Wasser und die Angst um Abu Dun.
»Er ist schon sehr früh weggegangen«, antwortete Corinna, während sie sich – aufreizend langsam, wie es ihm vorkam – anzuziehen begann. »Aber er hat sich tadellos benommen, keine Sorge. Ich muss gestehen, dass ich mich in ihm getäuscht habe. Ich habe ihn für einen Barbaren ohne Manieren gehalten, aber damit habe ich ihm wohl Unrecht getan. Er hat die ganze Zeit diskret auf seinem Stuhl gesessen und kein Wort gesagt.«
Andrej richtete sich kerzengerade auf und starrte sie an, und das Mädchen hielt seinem Blick mit todernster Miene stand und begann dann schallend zu lachen. »Nein, keine Sorge. Er hat nebenan geschlafen. Ich musste gar nichts sagen … oder wäre es dir lieber gewesen, wenn er neben dir gelegen und ich ihn aufgewärmt hätte?« Andrej erwiderte nichts. Es gab Dinge, über die er nicht gerne sprach. Wie schon nach der ersten gemeinsamen Nacht von Schamhaftigkeit erfüllt, schlüpfte er unter der Decke
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