Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
nur einige Schritte weit, bevor er abermals stehen blieb und mit der Dunkelheit verschmolz. Vor ihm bewegten sich Schatten, aber es waren zu viele. Drei, wenn nicht mehr, die offensichtlich damit beschäftigt waren, in dem hart gefrorenen Boden ein flaches Grab auszuheben. Sie schienen noch nichts von seiner Anwesenheit bemerkt zu haben, was ihm immerhin bewies, dass Abu Dun nicht bei ihnen war – was er insgeheim befürchtet hatte. Auf die vielleicht zwanzig Schritte, die sie noch voneinander trennten, hätte der Nubier nicht nur seinen Atem, sondern selbst seinen Herzschlag gehört.
Je länger er hinsah, desto weniger Sinn schien das zu ergeben, was er erblickte. Es waren tatsächlich drei Gestalten (obwohl er ganz sicher war, nur Scalsi und seinen tumben Begleiter in dem kleinen Boot gesehen zu haben), von denen zwei mit Graben beschäftigt waren, während die dritte einfach dastand und die Arbeit der anderen zu überwachen schien, vielleicht auch Anweisungen gab.
Aber wozu?
Andrej warf noch einen raschen Blick über die Schulter – nur um sicherzugehen, dass Corinna ihm nicht doch nachgekommen war –, dann richtete er sich auf, schlug den Mantel zurück und überwand das letzte Stück mit wenigen schnellen Schritten. Nebenbei bemerkte er, dass die Männer kein neues Grab aushoben, sondern eine Grabstelle öffneten, die offensichtlich erst vor kurzer Zeit angelegt worden war. Eigentlich ein perfektes Versteck, um einen Leichnam loszuwerden, ohne dass irgendjemand Fragen stellte.
»Guten Abend, die Herren«, sagte er ruhig. »Darf ich fragen, was hier vor sich geht?«
Hätte sich der Tote in diesem Moment aufgerichtet, um aus eigener Kraft in das geschändete Grab hinabzuklettern, hätte der Schrecken auch nicht größer sein können. Einer der Burschen fuhr mit einem keuchenden Schrei herum und erstarrte zur sprichwörtlichen Salzsäule, um ihn aus aufgerissenen Augen anzuglotzen. Andrej registrierte wenig überrascht, dass es Claudio war, aber um diesen Burschen würde er sich später kümmern. Jetzt galt seine ganze Aufmerksamkeit erst einmal dem dritten Mann, der auf der anderen Seite des flachen Grabes stand und ihn ansah.
Falls es ein Mann war. Oder überhaupt ein Mensch. Weder des einen noch des anderen konnte er vollkommen sicher sein, dazu war seine Ausstrahlung zu … seltsam.
»Aber wer … was tut Ihr …?« Andrej erkannte im allerersten Moment nicht einmal Scalsis Stimme, geschweige denn sein Gesicht, das vor Schmutz starrte. Sein Atem ging pfeifend, und Andrej konnte hören, wie schnell und mühsam sein Herz schlug. Erst danach sah er die kurzstielige Hacke, mit der der alte Mann versucht hatte, dem vom Frost erneut steinharten Boden zu Leibe zu rücken.
»Was tut Ihr hier, Signore Delãny?«, fragte Scalsi noch einmal und mit noch immer zitternder, jetzt aber schon wieder fester Stimme. Sein Zorn war nicht gespielt. »Spioniert Ihr uns nach?«
Statt zu antworten, versuchte Andrej die dritte Gestalt auf der anderen Seite des Grabes mit Blicken zu fixieren, was ihm aber aus irgendeinem Grund nicht gelang. Die Dunkelheit und der verblassende Tag lieferten sich ein lautloses Ringen, das Farben verwischte, Umrisse auflöste, sodass er, obschon sie nicht mehr als ein Dutzend Schritte entfernt stand, nur eine ungefähre Gestalt erkannte, eine seltsam flatternde Silhouette von annähernd seiner eigenen Größe, die einen breitkrempigen Hut trug, wie er schon seit einem guten Jahrhundert aus der Mode gekommen war. Das Gesicht darunter sah merkwürdig verzerrt, verschwommen aus, aber es gelang Andrej einfach nicht zu sagen, was ihn davon abhielt, es zu erkennen.
»Was geht hier vor?«, fragte er scharf. »Was tut Ihr hier?«
Die unheimliche Gestalt rührte sich nicht, sondern starrte ihn nur an, aber für den unfreiwilligen Totengräber waren seine Worte offensichtlich das Signal, endlich aus seiner Starre zu erwachen. Er ließ die Schaufel fallen und stürmte los, direkt auf ihn zu. Andrej trat fast gelassen einen halben Schritt zur Seite und empfing ihn mit einem Schlag mit dem Handrücken, der ihn einen halben Salto vollführen und dann auf dem Rücken wieder in das geschändete Grab zurückschlittern ließ. Der Schlag war so hart gewesen, dass seine Hand summte. Er fragte sich, ob er den Kiefer des Mannes gebrochen hatte, sah aber nicht einmal hin, sondern ließ den unheimlichen Fremden nicht für eine Sekunde aus den Augen. Seine Umrisse wogten und zitterten weiter, was an seinem
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