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Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod

Titel: Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wlofgang Hohlbein
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das Boot abtrieb und er womöglich bis zum Morgengrauen auf einer Insel festsaß, die in Wahrheit nichts als ein einziger großer Friedhof war!) und streckte erst dann die Hand aus, um Corinna von Bord zu helfen. Wie üblich ignorierte sie seine angebotene Hilfe und trat mit einem weit ausgreifenden Schritt auf den Kiesstrand hinab, der dennoch genauso elegant aussah wie fast alles, was sie tat. Sie sah sich mit demonstrativer Missbilligung um.
    »In spätestens einer Stunde geht die Sonne unter, Signore Delãny«, sagte sie. »Wenn Ihr eine Führung zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt wünscht, warum dann nicht bei Tage … und noch dazu ausgerechnet heute?«
    Sehenswürdigkeiten? Andrej sah sich ebenso um wie sie und mit kaum weniger zur Schau gestellter Missbilligung. Was er sah, war ein ganz normaler Strand, der von niedrigen Bäumen und einer Mauer aus verwilderten Büschen gesäumt wurde. Wäre das große Gebäude nicht gewesen, das ihn aus der Nähe betrachtet mehr denn je an einen tausend Jahre alten griechischen Tempel und nicht an eine Kirche erinnerte, hätte diese Insel genauso gut in einem Teil der Welt liegen können, den noch keines Menschen Fuß zuvor betreten hatte. Andrej meinte, die Verlassenheit dieses Ortes beinahe mit Händen greifen zu können. Er war auf unzähligen Friedhöfen gewesen und hielt sie für eine gute Einrichtung, boten sie den Hinterbliebenen doch einen Ort, an dem sie um ihre Toten trauern und ihrer in gebührender Umgebung gedenken konnten. Aber mit dieser Insel hier verhielt es sich etwas anders. Die Idee, eine ganze Insel diesem Brauch zu widmen, war ebenso praktikabel wie schlicht, genau so, wie er es von den Verwaltern einer Stadt wie Venedig erwartet hatte, aber es gelang ihm einfach nicht, die Eleganz dieser Lösung auch zu würdigen. Eine ganze Insel den Toten zu überlassen erschien ihm … unangemessen.
    »Willst du hier auf mich warten oder lieber dort drinnen?« Er deutete auf das mit Säulen geschmückte Gebäude in zwanzig Schritt Entfernung. »Dort ist es wärmer.«
    »Du willst eine hilflose junge Frau ganz allein nachts auf einem Friedhof zurücklassen?«
    »In einer Kirche und am Rand eines Friedhofs«, verbesserte er Corinna. Hilflos? »Und erzähl mir jetzt nicht, du hättest Angst, allein und bei Dunkelheit.«
    »Und wenn es so wäre?«
    »Würde ich sagen, dass Ihr mich beschwindelt, Signorina«, antwortete Andrej, lächelte flüchtig und bemühte sich gleich darauf, umso ernster zu klingen. »Ich möchte, dass du auf mich wartest. Ich dachte, das hätten wir geklärt, bevor wir losgefahren sind, um dem Dottore ein bisschen auf die Finger zu schauen.«
    »Um genau zu sein, hast du es vorgeschlagen, und ich habe gar nichts dazu gesagt«, antwortete Corinna – was übrigens voll und ganz den Tatsachen entsprach. Er hatte sehr deutlich gemacht, dass er überhaupt nur unter dieser Bedingung damit einverstanden war, dass sie ihn begleitete, und sie hatte – natürlich – nicht darauf reagiert … was, wie er mittlerweile wusste, nichts anderes hieß, als dass sie nicht einmal im Traum daran dachte, ihm zu gehorchen.
    »Ich werde nicht mit dir darüber diskutieren«, sagte er, wohl wissend, dass er bereits verloren hatte.
    »Dann ist es ja gut«, erwiderte Corinna lächelnd. »Gehen wir. Du brauchst meine Hilfe, und das weißt du genauso gut wie ich. Ohne mich findest du den guten Dottore nie. Diese Insel ist ziemlich groß.«
    »Also gut«, seufzte Andrej. »Dann sag mir, wohin wir gehen.«
    »Dorthin.« Corinna lächelte spöttisch und nickte in die Richtung, in die sie ohnehin unterwegs waren. »Ich spiele gerne weiter das kleine Dummchen für dich, wenn das dem tapferen Recken schmeichelt, und vielleicht bin ich es sogar, wer weiß? Aber so dumm bin ich nun auch wieder nicht. Ich weiß, wie schnell du laufen kannst.«
    »Nein«, sagte Andrej. »Weißt du nicht.«
    »Ein Grund mehr, mein kleines Geheimnis für mich zu behalten, ehe du mich wieder schnöde im Stich lässt.« Corinna hakte sich bei ihm unter. »Warum sagst du mir nicht, was dein Geheimnis ist, Andrej? Vertraust du mir nicht?«
    »Warum sagt Ihr mir nicht, wer Ihr wirklich seid, Contessa?«, fragte Andrej.
    »Contessa?« Corinna seufzte. »Oh ja, der gute Dottore. Ich frage mich wirklich, warum wir ihm auf diese Insel nachfahren müssen.«
    Andrej zögerte. Es gab einen Grund, der schwerer wog als alles andere: Er traute dem Mann nicht, der seinen Sohn in Gewahrsam genommen hatte. »Weil ich

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