Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
hatte. In der dunklen Straße hinter dem Theater hörte ich noch einmal Armands sanfte Stimme dicht an meinem Ohr, und er sagte: ›Kommen Sie wieder her, kommen Sie zu mir, wenn Sie können.‹ Ich blickte mich um, doch ich war nicht verwundert, als ich niemanden sah. Einmal hatte er mir gesagt, ich solle nicht aus dem Hotel SaintGabriel ausziehen, um den anderen auch nicht den kleinsten Anschein eines Beweises der Schuld zu geben, auf den sie warteten. ›Sehen Sie‹, sagte er, ›es ist sehr erregend, andere Vampire zu töten; deswegen ist es bei Todesstrafe verbotene
Und dann schien ich zu erwachen, sah die Straßen von Paris im Regen schimmern, sah die hohen schmalen Häuser zu beiden Seiten und war mir bewußt, daß die Tür, die ins Schloß gefallen war, eine feste dunkle Wand hinter mir errichtet hatte und daß Armand nicht mehr da war.
Und obwohl ich wußte, daß Claudia mich erwartete, obwohl ich sie im Hotelfenster sah, eine winzige Figur zwischen den Blattpflanzen, ging ich vorüber, entfernte mich von den Boulevards und tauchte abermals in den dunklen Straßen unter wie so oft in den Straßen von New Orleans.
Nicht etwa, daß ich Claudia nicht liebte - ich wußte, daß ich sie nur zu sehr liebte, daß meine Leidenschaft für sie so groß war wie die für Armand. Und jetzt floh ich sie beide und ließ das Verlangen nach dem Töten in mir auf steigen wie ein wohlbekanntes, willkommenes Fieber, das den Schmerz lindert und das Bewußtsein auslöscht.
Aus dem Nebel, der den Regen abgelöst hatte, trat ein Mann und ging auf mich zu. Ich erinnere mich, daß er wie durch eine Traumlandschaft wandelte, denn die Nacht um mich war dunkel und unwirklich. Es hätte überall auf der Welt sein können, und das schwache Licht der Stadt schimmerte formlos durch den Nebel. Offenbar war er betrunken, denn er lief blindlings in die Arme des Todes, fuchtelte mit den Händen und griff mir mit den Fingern direkt ins Gesicht. Noch war ich nicht von Sinnen; ich hätte ohne weiteres zu ihm sagen können: ›Mach dich davon!‹ Ich glaube, meine Lippen formten sogar das Wort, das Armand mir gesagt hatte: ›Nimm dich in acht!‹ Doch ich ließ es zu, daß er mit dem Mut der Trunkenheit seinen Arm um mich legte, mich mit den Augen verschlang und bat, mich malen zu dürfen. Sein loser Kittel roch nach Ölfarbe. Ich folgte ihm durch Montmartre und flüsterte ihm zu: ›Du gehörst nicht zur Gemeinschaft der Toten.‹ Er lachte darüber, und seine Hand berührte meine Wange, mein Gesicht und umfaßte mein Kinn, während er mich durch das nasse Gras eines überwachsenen Gartens führte, durch einen niedrigen, schwach erleuchteten Torweg, eine Treppe hinauf, bis mich die Wärme seines Ateliers umfing.
Ich sah seine großen Augäpfel funkeln, die kleinen Äderchen um die dunklen Pupillen, und fühlte die warme Hand, die meinen kalten Hunger erhitzte, als er mich zu einem Sessel geleitete. Und dann sah ich um mich herum Gesichter aus dem Lampenrauch auftauchen und im Lichtschein des Ofens flackern, ein Wunderland von Farben unter dem niedrigen Schrägdach, glanzvolle Schönheit, pulsierend und vibrierend. ›Setzen Sie sich, setzen Sie sich‹, sagte er, und mein Hunger wuchs.
Im Nu stand er vor der Staffelei, die Palette in der Hand, die Augen auf eine große Leinwand geheftet. Und ich ließ ihn gewähren, kopflos, hilflos, von diesen großen bewundernden Augen gefesselt, bis Armands Augen verschwanden und Claudia mit klappernden Absätzen von mir lief… Ich schloß die Augen, mein Hunger wurde zur Qual, und mein Herz schrie nach einem lebenden Herzen; und dann fühlte ich, wie er auf mich zutrat, die Hände ausgestreckt, um mein Gesicht in die richtige Lage zu bringen - der verhängnisvolle Schritt. Ein Seufzer entrang sich meinen Lippen. ›Bring dich in Sicherheit, flüsterte ich. »Nimm dich in acht!‹
Das rötlich-feuchte Gesicht des Malers wurde schreckensbleich, irgend etwas ließ das Blut aus den Adern seiner zarten Haut weichen, er wankte zurück, der Pinsel fiel ihm aus der Hand. Und ich machte mich über ihn her, fühlte meine Zähne auf den Lippen, spürte, wie meine Augen sich mit den Farben seines Gesichtes füllten, meine Ohren mit seinem erstickten Schrei, meine Hände mit seinem kräftigen, widerstrebenden Fleisch, bis ich ihn vollends an mich riß, ihm die Zähne in dieses Fleisch schlug und das Blut trank, das ihm Leben gab. ›Stirb!‹ flüsterte ich, als ich den Griff lockerte und sein Kopf an meiner Brust
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