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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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lag. ›Stirb!‹. und ich fühlte, wie er sich bemühte, zu mir aufzusehen. Und wieder trank ich, und wieder kämpfte er verzweifelt, bis er endlich erschlaffte und halbtot zu Boden sank. Doch seine Augen blieben offen.
    Ich setzte mich vor die Staffelei, müde und satt, und blickte zu ihm hinunter, in die verschwimmenden grauen Augen. Meine Hände waren aufgeblüht, meine Haut war wohlig warm. ›Ich bin wieder ein Sterblichen, sagte ich leise zu ihm, ›ich lebe wieder. Mit deinem Blut.‹ Seine Augen schlössen sich. Ich lehnte mich zurück und starrte in mein eigenes Antlitz.
    Es war nur eine Skizze, eine Vielfalt kühner Striche, die aber schon mein Gesicht vorzüglich wiedergaben, und die Farben waren mit einigen Tupfen angedeutet - das Grün meiner Augen, die weißen Wangen. Doch mit welcher Verblüffung sah ich dieses Gesicht! Er hatte meine Züge vollkommen getroffen, doch es lag kein Schrecken, kein Grauen in ihnen. Die grünen Augen schauten mich mit ausdrucksloser Unschuld an und zeigten nichts von der übermächtigen Begierde, die er offenbar gar nicht begriffen hatte. Ein Louis, wie er vor mehr als hundert Jahren gewesen sein mochte, als er dem Priester bei der Messe lauschte, mit schlaffen, halbgeöffneten Lippen, lockerem Haar und eine Hand auf dem Schoß. Ein sterblicher Louis. Ich lachte, lachte, daß mir die Tränen kamen, und als ich die Hand hob, um sie abzuwischen, mischte sich das salzige Naß mit dem sterblichen Blut. Und erneut zitterte in mir die Erregung des Ungeheuers, das getötet hatte und wieder töten würde, und jetzt das Bild ergriff, um damit zu entfliehen.
    Da erhob sich der Mann mit einem tierischen Stöhnen vom Boden und umklammerte meine Schuhe, versuchte sich aufzurichten und griff nach dem Bild. ›Geben Sie es her!‹ keuchte er. ›Geben Sie es her!‹, als wolle er es in den Himmel oder die Hölle mitnehmen. Und wir starrten uns an - der Unhold, den alles Blut nicht zum Menschen machen konnte, und der Mensch, den meine Verderbtheit nichts vollends überwältigt hatte. Und außer mir, als wäre ich nicht mehr ich selbst, zog ich ihn an mich und verbiß mich abermals in seiner Kehle.«

    »Zurückgekehrt in unsere Zimmer im Hôtel Saint-Gabriel, stellte ich das Bild auf den Kaminsims und betrachtete es lange. Claudia war irgendwo; sie ließ sich nicht blicken; doch noch jemand war da - ein fremder Geruch, unmißverständlich. Ich wußte nicht, weshalb ich das Bild mitgenommen, weshalb ich so darum gekämpft hatte, daß es mich nun mehr beschämte als alles andere, und warum ich nicht davon lassen konnte. Dann endlich wandte ich langsam den Kopf; das Zimmer um mich sollte Gestalt annehmen, die Blumen, die Samtbezüge und die Kerzen in den Leuchtern. Um wieder sterblich zu sein und harmlos und in Sicherheit. Dann erblickte ich, wie im Nebel, eine Frau.
    Sie saß gelassen an Claudias Frisiertisch, und die drei kleinen Spiegel wiederholten ihr Bild in dem grünen Taftkleid, so daß es schien, als säße dort nicht eine Frau, sondern mehrere. Ihr dunkelrotes Haar war in der Mitte gescheitelt und zu beiden Seiten über den Ohren zurückgelegt, außer einem Dutzend Löckchen, die das blasse Gesicht umrahmten. Sie sah mich an mit zwei ruhigen veilchenblauen Augen und einem weichen Kindermund, mit dem sie jetzt lächelte und sagte: ›Ja, er ist so, wie du sagtest, und ich liebe ihn schon. Ganz wie du sagtest.‹ Sie stand auf, raffte den weiten Taftrock, und die drei kleinen Spiegel waren leer.
    Sprachlos vor Verblüffung wandte ich mich um und sah Claudia auf dem großen Bett sitzen, das Gesicht unbewegt, doch die kleine Hand an den seidenen Bettvorhang geklammert. ›Madeleine‹, sagte sie leise, ›Louis ist schüchtern.‹ Und sie sah mit kalten Augen zu, wie Madeleine lächelte, auf mich zu trat und mit beiden Händen den Spitzenrand ihres Kleides am Hals beiseite schob, so daß ich zwei kleine Wundmale sehen konnte. Dann erstarb das Lächeln auf ihren Lippen, und sie wurde schwermütig und sinnlich zugleich, als ihre Augen sich zusammenzogen und sie das Wort hauchte: ›Trink!‹
    Ich wandte mich ab und hob instinktiv die Faust in einer Bestürzung, für die ich keine Worte finden konnte. Dann war plötzlich Claudia neben mir, hielt meine Hand fest und sah mich mit unbarmherzigen Augen an. ›Tu es, Louis‹, befahl sie. ›Denn ich kann es nicht tun.‹ Ihre Stimme war ebenso schmerzhaft ruhig wie ihre Miene; jede Regung verbarg sich hinter diesem harten, gemessenen Ton.

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