Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
deines Lebens. Wenn du mit ihr brichst, dann trennst du dich von dem einzigen lebenden Wesen, das diese Zeit mit dir geteilt hat. Das fürchtest du - die Isolierung, eine Ewigkeit lang.‹
›Das ist wahr‹, sagte ich, ›doch nur ein kleiner Teil von allem. Das Zeitalter es bedeutet mir nicht viel. Sie hat ihm Bedeutung gegeben, das ist richtig. Andere Vampire müssen es auch erfahren und überleben es - das Dahinschwinden eines Zeitalters, von hundert Zeitaltern.‹
»Aber sie überleben es nicht‹, sagte er. ›Die Welt würde ja ersticken vor Vampiren, wenn sie es überlebten. Wie kommt es, glaubst du, daß ich der älteste Vampir bin, hier und in der ganzen Welt?‹
Ich überlegte. Und dann wagte ich die Frage: ›Sie sterben eines gewaltsamen Todes?«
›Nein, fast nie‹, erwiderte er. ›Das ist gar nicht nötig. Wie viele Vampire, meinst du, haben die Kraft zur Unsterblichkeit? Sie haben zunächst einmal die trübseligsten Vorstellungen davon. Denn wenn sie unsterblich werden, wollen sie alle Formen ihrer bisherigen Lebens für alle Zeiten beibehalten: schöne Häuser, kostbare Möbel, Kutschwagen, alles in der gleichen verläßlichen Form; die Kleidung vom gleichen Schnitt wie in ihrer Jugend, die Menschen in Sprache und Gehabe, so wie sie es immer verstanden und geschätzt haben. Wenn jedoch, wie es der Fall ist, sich alle Dinge verändern außer dem Vampir selbst, dann ist alles außer dem Vampir auch ständiger Verderbnis und Verzerrung unterworfen. Und so wird diese Unsterblichkeit sehr bald zu einer Gefängnisstrafe in einem Tollhaus von Gestalten und Formen, die dem Vampir hoffnungslos unbegreiflich und ohne jeden Wert erscheinen. Eines Abends kommt dann ein Vampir zu der Erkenntnis die er vielleicht schon seit Jahrzehnten gefürchtet hat -, daß er nicht mehr um jeden Preis leben möchte. Daß die Existenzformen, die ihm einst das ewige Leben wünschenswert gemacht hatten, von der Erde verschwunden sind. Es bleibt ihm kein anderer Ausweg aus der Verzweiflung als der Tod. Und der Vampir macht sich auf, um zu sterben. Niemand weiß, wohin er geht. Und oft weiß sogar in seiner engsten Umgebung niemand - sofern er noch die Gesellschaft anderer Vampire gesucht hat -, daß er in Verzweiflung ist. Er hat seit langem aufgehört, von sich zu sprechen. Und er verschwindet ohne Aufhebens.‹
Ich war tief berührt von der offenkundigen Wahrheit dessen, was ich gehört, und zugleich empörte sich alles in mir gegen diese Ansicht. Mir wurde die Tiefe meiner Hoffnung und meines Grauens bewußt - wie verschieden waren diese Gefühle von der Entfremdung, die Armand beschrieben hatte, wie ganz anders als jene schreckliche, zerstörerische Verzweiflung, die mir plötzlich frevelhaft und abstoßend vorkam und die ich nicht gelten lassen konnte.
Schließlich fand ich eine Antwort und sagte: ›Aber du würdest einen solchen Geisteszustand nicht dulden. Schau dich an! Gäbe es in dieser Welt kein einziges Kunstwerk - und es gibt deren Tausende… keine einzige natürliche Schönheit… wäre die Welt auf eine leere Klause und eine schwache Kerze reduziert -, ich sähe dich beschäftigt mit der Betrachtung dieser Kerze, versunken in das Flackern ihres Lichtes, den Wechsel ihrer Farben. Wie lange könnte es dich aufrechterhalten, welche Möglichkeiten erwüchsen dir daraus? Irre ich mich? Bin ich so ein närrischer Idealist?‹
›Nein‹, erwiderte er. Ein kurzes Lächeln spielte auf seinen Lippen, ein flüchtiger Schimmer von Belustigung. Doch dann fuhr er in seiner schlichten Redeweise fort. ›Aber du fühlst dich einer Welt verpflichtet, die du liebst, weil für dich diese Welt noch intakt ist. Es ist denkbar, daß deine Sensibilität einmal das Werkzeug des Wahnsinns wird. Du sprichst von Kunstwerken und von natürlicher Schönheit. Ich wollte, ich hätte die Fähigkeit eines Künstlers, dir das Venedig des fünfzehnten Jahrhunderts vor Augen zu führen, den Palast meines Herrn dort, die Liebe, die ich ihm entgegenbrachte, als ich ein sterblicher Knabe war, und die Liebe, die er für mich empfand, als er mich zu einem Vampir machte. Ach, könnte ich diese Zeiten Wiederaufleben lassen… für einen Augenblick nur! Doch wozu wäre es nütze? Und wie traurig ist es für mich, daß die Zeit die Erinnerung an jene Tage nicht trübt, daß sie mir im Gegenteil immer reicher und wunderbarer erscheinen im licht der Welt, die ich heute um mich sehe.‹
›Liebe?‹ fragte ich. ›Es war Liebe zwischen dir und dem
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