Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
verwunderte mich; durch ihn wurde ich meiner Kräfte bewußt, ich merkte, daß die Wege, die ich bisher gegangen, Wege der Menschen waren, die ich nun nicht länger zu gehen brauchte.
Mich verlangte dringend, mit ihm zu sprechen, ihm die Hände auf die Schultern zu legen, damit er stehenbliebe, ihm in die Augen zu sehen, wie ich es in jener Nacht getan hatte, um der Erregung in mir Herr zu werden. Es gab soviel, was ich ihm sagen, ihm erklären wollte. Dabei wußte ich eigentlich gar nicht, was ich ihm sagen sollte und warum ich eigentlich den Wunsch hatte, mit ihm zu sprechen; ich wußte nur, daß das Übermaß meiner Gefühle mich fast bis zu Tränen rührte. Und das war es, was ich am meisten fürchtete.
Ich wußte nicht, wo wir jetzt waren, nur daß ich schon auf früheren Streifzügen hier gewesen war: eine Straße mit alten vornehmen Wohnhäusern, mit bleigefaßten Fenstern unter steinernen Bögen, mit Türmen und Gartenmauern und Toreinfahrten, Häuser aus vergangenen Jahrhunderten, in denen eine Handvoll Menschen in hohen Zimmern und Sälen wohnte, von denen gewöhnliche Sterbliche ausgeschlossen waren.
Armand war unversehens auf eine Mauer gestiegen, hielt sich mit |einem Arm an einem überhängenden Ast fest und reichte mir die andere Hand. Vor mir erhob sich Stockwerk über Stockwerk, ein hoher Turm, kaum sichtbar in dem dunklen strömenden Regen. ›Wir werden den Turm emporklettern‹, sagte Armand. Ich wandte ein: ›Ich kann nicht… das ist unmöglich!‹
Er sagte: ›Du hast noch nicht deine Kräfte erkannt. Du kannst sehr gut ^klettern. Erinnere dich: Wenn du fällst, erleidest du keinen Schaden. Tue nur, was ich tue. Doch höre: Die Bewohner dieses Hauses kennen mich seit hundert Jahren und denken, ich bin ein Geist; wenn sie dich also zufällig sehen sollten oder du sie durch ein Fenster siehst, dann denke daran, wofür sie dich halten, und laß dir nichts anmerken, damit du sie nicht verwirrst. Hörst du? Du bist ganz sicher.‹
Ich war ungewiß, was mich mehr schreckte, die Kletterei selber oder die Aussicht, für einen Geist gehalten zu werden; doch es war keine Zeit für Spitzfindigkeiten. Armand hatte den Aufstieg begonnen, die Füße in den Mauerfugen, die Hände wie Klauen in den Ritzen der Steine geklammert; und ich stieg ihm nach, fast an die Mauer gedrückt, ohne hinunterzusehen. Einen Moment lang ruhte ich mich auf einem Fenstersims aus und warf einen Blick in die Wohnung, sah einen dunklen Rücken vor einem flammenden Kaminfeuer, eine Hand mit dem Schür-‘ eisen, eine andere Gestalt, die sich im Zimmer bewegte, ohne zu wissen, daß sie beobachtet wurde. Vorbei. Wir kletterten höher und höher bis zum obersten Turmfenster, das Armand schnell aufdrückte. Er stieg ein, und ich folgte ihm.
Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als wir im Zimmer standen, rieb mir die Arme und sah mich in dem feuchten, fremden Raum um. Unter uns die Dächer schimmerten silbern, hier und da ragten spitze Türmchen durch die Baumwipfel. In der Feme funkelte die Lichterkette eines Boulevards. Das Zimmer schien so feucht zu sein wie die Nacht draußen.
Armand machte Feuer, nahm Stühle, die in der Ecke standen, und machte Brennholz daraus. Es sah grotesk aus, wie er mühelos die dicksten Stäbe zerbrach, mit anmutigen Bewegungen und ohne eine Miene seines weißen Gesichtes zu verziehen. Nichts Menschliches schien an ihm zu sein; sogar seine anmutsvollen Züge und sein dunkles, gewelltes Haar waren mehr die eines furchterregenden Engels, der mit Menschen nur eine oberflächliche Ähnlichkeit hat. Und furchterregend war er, als er mir einen schweren Eichenstuhl hinschob und selber am Kamin Platz nahm, um sich die Hände zu wärmen, furchterregend, obwohl ich mich zu ihm hingezogen fühlte, stärker als zu jedem anderen lebenden Wesen außer Claudia.
›Ich kann die Bewohner des Hauses hören‹, sagte ich. Die Wärme tat mir gut; ich fühlte sie an den Händen und Füßen.
›Dann weißt du, daß ich sie auch hören kann‹, erwiderte er. Es sollte kein Vorwurf sein, aber ich merkte, was seine Worte bedeuteten.
Dennoch fragte ich: ›Und wenn sie kommen?‹
›Aus meinem Benehmen kannst du folgern, daß sie nicht kommen werden‹, sagte er. ›Wir können hier ungestört die ganze Nacht sitzen.‹ Er fügte hinzu, daß der Turm schon vor langer Zeit verschlossen worden sei und nicht mehr betreten werde, und selbst wenn die Leute Licht in den Fenstern oder Rauch aus dem Schornstein
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