Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
Du hast mich. Ich liebe dich. Aber ich bin verwirrt. Du bist zufrieden?‹
›Wie könnte ich es nicht sein?« fragte er. ›Natürlich bin ich zufrieden.‹
Ich stand auf und ging zum Fenster. Die letzte Glut im Kamin erlosch, am Himmel graute schon der Morgen. Armand trat zu mir, ich hörte seine Schritte, fühlte ihn neben mir und sah in dem dämmernden licht sein Profil. Der Regen tropfte und rauschte, gurgelte in der Dachrinne, trommelte auf die Schindeln, sickerte durch die Baumwipfel und spritzte auf das Pflaster - ein sanftes Geräuschkonzert, das die scheidende Nacht erfüllte. Er fragte: ›Verzeihst du mir…, daß ich dich gezwungen habe…?‹
›Du brauchst meine Verzeihung nicht‹, erwiderte ich.
›Du brauchst sie‹, sagte er. ›Und darum brauche ich sie auch.‹ Sein Gesicht war wie immer vollkommen regungslos.
›Wird Madeleine für Claudia sorgen?‹ fragte ich.
›Wird sie bei ihr ausharren?‹
»Sie ist vollenden, antwortete er. ›Sie ist verrückt, aber das gehört heutzutage zur Vollendung. Sie wird für Claudia sorgen. Sie hat nie in ihrem Leben allein gelebt: Daher ist es für sie die natürlichste Sache, sich anderen zu widmen. Sie braucht keine besonderen Gründe, um Claudia zu lieben, obwohl es besondere Gründe gibt. Claudias Schönheit, ihre Ruhe, ihre Kraft und Selbstbeherrschung. Doch ich glaube… sie sollten so bald wie möglich Paris verlassen.‹
›Warum?‹
›Du weißt, warum‹, sagte er. ›Weil Santiago und die anderen sie argwöhnisch beobachten. Alle Vampire haben Madeleine gesehen. Sie fürchten sie, weil sie von ihnen weiß und weil sie sie nicht kennen. Sie lassen keinen in Ruhe, der von ihnen weiß.‹
›Und der Knabe?‹ fragte ich weiter. ›Was hast du mit ihm vor?‹
Er antwortete: ›Denis ist tot.‹
Ich erschrak über seine Worte und seine Ruhe. ›Du hast… du hast ihn getötet?‹ stieß ich hervor.
Er nickte wortlos. Doch seine großen dunklen Augen waren von mir erfüllt, von der Erregung, dem Schock, den ich nicht zu verbergen suchte. Sein Lächeln zog mich zu ihm; seine Hand schloß sich über der meinen, und ich fühlte mich an ihn gedrängt, als würde ich nicht aus eigener Kraft bewegt, sondern von ihm. ›Es war das beste‹, fügte er hinzu. Und dann sagte er: ›Wir müssen aufbrechen…‹ Und er blickte auf die Straße hinunter.
»Armand!‹ sagte ich. ›Ich kann nicht…‹
›Du mußt mir nur folgern, sagte er und stieg hinaus. Auf dem Sims blieb er stehen. »Selbst wenn du aufs Pflaster fallen solltest, wärst du nur für kurze Zeit verletzt. Du würdest so schnell und vollkommen heilen, daß in wenigen Tagen keine Spur davon zu sehen wäre. Klettere getrost hinunter.‹
›Und was kann mich töten?‹ fragte ich.
›Die Vernichtung deiner irdischen Überreste‹, sagte er. ›Weißt du es nicht? Verbrennung, Zerstückelung… die Glut der Sonne. Sonst nichts. Man kann dich verstümmeln, ja; aber du bist nicht umzubringen. Du bist unsterblich.‹
Ich blickte hinunter durch den silbrigen Regen. Ein Licht flackerte unter den Bäumen und warf schwache Strahlen auf die Straße. Nasse Kopfsteine, der eiserne Haken einer Glocke am Kutschhaus, die feuchten Blätter des Weins, der sich an der Mauer emporrankte. Dann erlosch das Licht, als hätten die Bäume es verschluckt; die Straße lag wieder im Dunkeln. Mir schwindelte etwas, als ob der Turm schwanke. Armand saß auf dem Fenstersims und blickte zu mir zurück. ›Louis‹, flüsterte er, ›komm mit mir heute nacht!‹
Ich schüttelte den Kopf. ›Nein‹, sagte ich leise. ›Noch nicht. Es ist zu früh. Ich kann sie noch nicht verlassen.‹
Er wandte sich ab und betrachtete den Himmel; er schien einen Seufzer auszustoßen, doch ich hörte ihn nicht. Ich fühlte seine Hand neben meiner auf dem Fensterbrett. ›Also gut…‹, sagte er.
›Noch ein wenig Zeit…‹, sagte ich. Und er nickte und streichelte meine Hand, als wolle er bestätigen, daß es so gut sei. Dann verschwand er. Einen Augenblick zögerte ich und spürte mein Herzklopfen. Dann stieg ich aus dem Fenster und folgte ihm, ohne hinunterzublicken.«
E s dämmerte fast, als ich unsere Zimmertür im Hotel aufschloß. Die Gaslaterne warf ihren flackernden Schein gegen die Wände. Madeleine war mit Nadel und Faden in der Hand am Kamin eingeschlafen. Claudia stand zwischen den Farnpflanzen am Fenster und blickte mich an. Sie hatte die Haarbürste in der Hand. Ihr Haar schimmerte golden. Der üppige Luxus
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