Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
Kräfte gebrauchen müsse, wenn ich jedes Erlebnis auf ein Höchstmaß bringen wollte. Lestat konnte mir dabei nichts nützen.
Es war lange nach Mittemacht, als ich endlich aufstand und auf die Terrasse hinaustrat. Der Mond stand groß über den Zypressen, und das licht der Kerze drang durch die geöffneten Türen. Die dickverputzten Säulen und Wände des Hauses waren neu getüncht und der Dielenboden frisch gefegt worden, und ein Sommerregen hatte die Nacht erfrischt und funkelnde Tropfen hinterlassen. Ich lehnte mich an einen Pfeiler der Terrasse; die zarten Ranken eines Jasminstrauchs, der dort mit einer Glyzinie um die Wette wuchs, berührten meine Stirn, und ich dachte daran, was vor mir lag in der Welt und in der Zeit, und beschloß, behutsam und ehrfürchtig vorzugehen und von jedem Ding zu lernen, wie es mich am besten zu einem anderen weiterführte. Ich war nicht ganz sicher, was ich damit meinte, aber du verstehst mich vielleicht, wenn ich sage, daß ich mich nicht kopfüber in das Erlebnis stürzen wollte und daß das, was ich als Vampir empfand, viel zu mächtig war, um vergeudet zu werden?«
»Ja«, sagte der Junge eifrig. »Es klingt, wie wenn man verliebt ist.« Die Augen des Vampirs leuchteten. »Ganz recht. Es ist wie Liebe«, sagte er lächelnd. »Und ich schildere dir meine Gemütsverfassung in jener Nacht, damit du die tiefsten Unterschiede zwischen Vampiren kennenlernst, und wie sich meine Einstellung zu Lestat änderte. Ich habe nicht die Nase über ihn gerümpft, weil er aus seinen Erlebnissen nichts zu machen verstand; ich konnte nur einfach nicht begreifen, wie man solche Gefühle vergeuden konnte. Aber dann tat Lestat etwas, um mir zu zeigen, wie ich lernen sollte.
Er hatte ein mehr als oberflächliches Verständnis für die Schätze von Pointe du Lac. Ihm gefiel das edle Porzellan, in dem seinem Vater das Abendessen serviert wurde; er liebte es, die Samtvorhänge anzufassen oder die Teppichmuster mit dem Zeh nachzuzeichnen. Und jetzt nahm er aus dem Geschirrschrank ein Kristallglas und sagte: ›Ich habe keine so schönen Gläser.‹ Doch sagte er es mit einem so boshaften Vergnügen, daß ich ihn genau ins Auge faßte. Er war mir im höchsten Grade unsympathisch. ›Ich möchte dir einen kleinen Trick zeigen‹, sagte er. ›Das heißt, wenn du Gläser magst.‹ Er stellte es auf den Tisch, kam zu mir heraus auf die Terrasse und nahm die Haltung eines anschleichenden Raubtieres an. Die Augen durchdrangen das Dunkel hinter den Lichtern des Hauses und spähten unter das Geäst der Eichen. Im Nu sprang er auf das Geländer und ließ sich sacht hinunter, dann schoß er in die Finsternis und fing etwas mit beiden Händen. Als er vor mir stand, erkannte ich mit Widerwillen eine Ratte. ›Sei kein so verdammter Idiot‹, sagte er. ›Hast du noch nie eine Ratte gesehen?‹ Es war eine große, zappelnde Feldratte mit einem langen Schwanz. Er hielt sie im Nacken fest, so daß sie nicht beißen konnte. ›Ratten können recht lecker sein‹, fuhr er fort, trug das Tier zu dem Weinglas, schlitzte ihm die Kehle auf und füllte das Glas schnell mit ihrem Blut. Die Ratte flog anschließend über das Geländer der Terrasse, und Lestat hielt das Glas triumphierend vor den Leuchter. ›Es kann sehr gut möglich sein, daß du von Zeit zu Zeit von Ratten leben mußt, also mach nicht so ein Gesicht‹, sagte er. ›Ratten, Hühner oder sonstiges Vieh. Auf einer Schiffsreise zum Beispiel tust du gut daran, dich von Ratten zu ernähren, wenn du nicht eine solche Panik verursachen willst, daß sie deinen Sarg suchen. Du tust verdammt gut daran, das Schiff von Ratten zu säubern.‹ Und dann schlürfte er das Blut so genüßlich, als wäre es Burgunder. Er verzog dabei das Gesicht. ›Es wird so schnell kalt.‹
›Meinst du wirklich, wir können von Tieren leben?‹ fragte ich.
›Ja.‹ Er trank aus und warf das Glas gleichmütig in den Kamin. Ich l starrte die Scherben an. ›Nimmst du es mir übel?‹ fragte er und wies mit einem sarkastischen Lächeln auf das zerbrochene Glas. ›Ich hoffe nicht, weil du nicht viel machen könntest, wenn es so wäre.‹
›Ich kann dich und deinen Vater aus Pointe du Lac hinauswerfen, wenn ich es übelnehme‹, antwortete ich. Das war, glaube ich, das erste Mal, daß ich meine Verstimmung zeigte.
›Warum solltest du das tun?‹, fragte er spöttisch. ›Du weißt noch nicht alles… nicht wahr?‹ Er lachte und ging langsam im Zimmer auf und ab. Dann glitt er mit
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