Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
mich hatten, und verspottete mich, wenn ich ihn über Gott oder den Teufel befragte. ›Ich möchte gern eines Abends dem Teufel begegnen‹, sagte er einmal mit hämischem Lächeln. ›Ich würde ihn von hier bis in den Ozean jagen. Der Teufel bin ich.‹ Und wenn ich mich darüber entsetzte, lachte er wieder schallend. Aber es kam einfach dahin, daß ich in meiner Abneigung nichts auf seine Worte gab und ihn zugleich beargwöhnte und mit objektivem Interesse studierte. Manchmal ertappte ich mich dabei, daß ich sein Handgelenk anstarrte, aus dem ich mein Vampirleben gesogen hatte, und in eine solche Bewegungslosigkeit verfiel, daß der Geist meinen Körper zu verlassen oder, besser gesagt, mein Körper mein Geist zu werden schien; und dann merkte er es und blickte mich mit störrischer Einfalt an, ohne eine Ahnung dessen, was ich empfand und zu wissen verlangte; und manchmal streckte er den Arm aus, um mich auf rauhe Weise wachzuschütteln.
Ich ertrug dies alles mit offenkundiger Gleichgültigkeit, die mir in meinem sterblichen Leben fremd gewesen war, und lernte, es als einen Teil meiner Vampirnatur zu begreifen: daß ich zu Hause in Pointe du Lac sitzen und stundenlang an meines Bruders irdisches Leben denken und es in unergründlicher Dunkelheit sehen konnte; daß ich nun die verzehrende, doch eitle und sinnlose Leidenschaft verstand, mit der ich seinen Verlust betrauerte und mich auf andere Sterbliche geworfen hatte wie ein toll gewordenes Tier. Alle diese verworrenen Vorstellungen tanzten wie in einem Nebel vor mir, und ich empfand nun, in meiner seltsamen Vampirnatur, eine tiefe Traurigkeit. Aber du sollst nicht den Eindruck haben, daß ich darüber grübelte, das wäre für mich der schrecklichste Verfall gewesen; sondern ich betrachtete alle Sterblichen um mich herum, die ich kannte, und sah, daß jegliches Leben kostbar war, und verdammte jede fruchtlose Schuld und Leidenschaft, die es wie Sand durch die Finger rinnen lassen würden. Erst jetzt als Vampir lernte ich meine Schwester richtig kennen und verbot ihr die Plantage zugunsten eines Lebens in der Stadt, das sie brauchte, um die ihr gemäße Lebensart und ihre Schönheit zu erkennen und einen Ehegatten zu finden, und nicht nur unsere Mutter zu pflegen oder darüber zu brüten, daß unser Bruder tot war und ich davonging. Ich gab ihnen allen, was sie wollten oder brauchten, und der lächerlichste Wunsch war mir für meine Aufmerksamkeit nicht zu gering. Meine Schwester lachte über die Verwandlung, die mit mir vorgegangen war, wenn wir uns abends trafen und ich sie bei Mondschein durch die schmalen holzgepflasterten Straßen zu den Alleen am Deich führte, wo wir den Duft der Orangen und die schmeichelnde Wärme der Luft genossen, oder wenn wir allein in dem dämmrigen Salon saßen und stundenlang über ihre geheimsten Gedanken und Träume plauderten, jene kleinen Phantasien, die sie niemand zu erzählen wagte und auch mir nur zuflüsterte. Ein süßes, kostbares Geschöpf, das bald altem, bald sterben sollte; und nur zu bald schwanden jene nicht zu greifenden Augenblicke, die uns trügerisch, ach so trügerisch, Unsterblichkeit versprachen, Augenblicke, von denen jeder einzelne erkannt und ausgekostet werden mußte.
Es war Entrücktheit, die dies ermöglichte, eine köstliche Einsamkeit, in der Lestat und ich uns durch die Welt der Sterblichen bewegten. Und alle materiellen Sorgen glitten von uns ab. Ich werde dir sagen, wie es zuging.
Lestat war sehr geschickt darin, die Opfer zu bestehlen, die er wegen ihrer kostbaren Kleidung und anderer Zeichen von Reichtum aussuchte. Aber von Bankgeschäften und dergleichen hatte er keine Ahnung. Vermutlich war er hinter seiner äußeren Kavaliershaltung von einer schrecklichen Unwissenheit in den einfachsten Geldangelegenheiten. Ich hingegen verstand mich darauf. Und so konnte er jederzeit Geld beschaffen, und ich konnte es anlegen. Wenn er nicht einem Toten in einer Hintergasse die Taschen leerte, so suchte er die Spieltische in den reichen Salons der Stadt auf, verwandte all seinen Charme darauf, die Freundschaft junger Pflanzersöhne zu erwerben und sie um Gold und wertvolle Papiere zu erleichtern. Aber dies allein hätte ihm nicht das Leben ermöglicht, das er sich wünschte, und so hatte er mich in die übernatürliche Welt eingeführt, um einen Sekretär und Finanzverwalter zu haben, dessen Fertigkeiten des alltäglichen Daseins höchst wertvoll bei seiner jetzigen Existenz waren.
Doch laß mich dir
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