Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
weltlichen Angelegenheiten war Lestat ein hinlänglicher Lehrer. Was für eine Sorte Mensch er bei Lebzeiten gewesen war, wußte ich nicht und kümmerte mich nicht; doch nun gehörte er trotz allen Anscheins derselben Klasse an wie ich, was mir, bis auf die Tatsache, daß es unser Leben etwas reibungsloser verlaufen ließ, als es sonst wohl verlaufen wäre, wenig bedeutete. Er hatte einen untadeligen Geschmack, wenn auch meine Bibliothek ihm nur ›ein Haufen Staub‹ war und er mehr als einmal wütend wurde, wenn er mich ein Buch lesen oder irgendwelche Beobachtungen in ein Tagebuch schreiben sah. ›Das ist vergänglicher Unsinn‹, pflegte er dann zu sagen, während er zugleich so viel von meinem Geld ausgab, um Pointe du Lac prachtvoll einzurichten, daß sogar ich, der sich nichts aus Geld machte, zusammenzuckte. Und wenn es galt, Besucher in Pointe du Lac aufzunehmen und zu bewirten - diese unseligen Reisenden, die zu Pferd oder im Wagen die Straße am Fluß hinaufkamen und um Unterkunft für eine Nacht baten und Empfehlungsschreiben von Beamten in New Orleans oder von anderen Plantagenbesitzern vorzeigten -, zu diesen war er so höflich und freundlich, daß es auch leichter für mich wurde, der ich so hoffnungslos mit ihm verbunden war und zugleich so maßlos abgestoßen von seiner Gemeinheit.«
»Aber er hat doch diesen Leuten nichts getan?« fragte der Junge. »O doch, sehr oft. Aber ich will dir ein kleines Geheimnis verraten, wenn ich darf, das nicht nur für Vampire gilt, sondern auch für Offiziere, Generäle und Könige: Die meisten von uns würden lieber jemand sterben sehen, als zu wissen, daß er unter unserem Dach unhöflich behandelt wird. Seltsam, nicht? Aber sehr wahr, ich versichere es dir. Daß Lestat jede Nacht auf Menschenjagd war, wußte ich. Aber wäre er häßlich oder grausam zu meiner Familie gewesen, zu meinen Gästen oder meinen Sklaven, ich hätte es nicht geduldet. Doch das war er nicht. Er schien sogar von den Besuchern besonders entzückt zu sein und sagte, wir dürften keine Ausgaben scheuen, wenn es unsere Familien beträfe. Und mir schien, als überschütte er seinen Vater in einem geradezu lächerlichen Maße mit Luxus. Immer wieder mußte man dem alten blinden Mann sagen, wie schön und teuer seine Bettjacken und Schlafröcke seien und was für kostbare Vorhänge man jetzt wieder an seinem Bett angebracht habe und was für erlesene französische und spanische Weine wir im Keller hätten und wieviel die Plantage sogar in schlechten Jahren einbrächte, als schon überall die Rede davon war, man solle die Indigoproduktion aufgeben und lieber Zucker pflanzen. Dann wieder schnauzte er seinen Vater an, wie ich es schon erwähnte, und redete sich so in Wut, daß der Greis wie ein Kind zu wimmern anfing. ›Sorge ich nicht großzügig wie ein Graf für dich?‹ rief er. ›Befriedige ich nicht alle deine Bedürfnisse? Hör auf, darüber zu wimmern, daß du nicht in die Kirche oder zu alten Freunden gehen kannst. So ein Unsinn! Deine alten Freunde sind längst tot. Warum stirbst du nicht auch und läßt mich und mein Geld in Ruhe!‹ Der Alte beteuerte, daß ihm diese Dinge so wenig bedeuteten. Er wäre lieber auf seiner kleinen Farm geblieben. Ich wollte oft fragen, wo diese Farm gewesen und von wo Lestat nach Louisiana gekommen sei, um einen Hinweis zu erhalten, wo er andere Vampire gekannt haben mochte, doch unterließ ich es, damit der alte Mann nicht zu weinen begann und Lestat dann wütend wurde. Doch ebenso häufig war Lestat auch freundlich und fügsam und brachte seinem Vater das Abendessen auf einem Tablett und fütterte ihn geduldig, während er vom Wetter sprach und Neuigkeiten aus New Orleans erzählte, und was meine Mutter und meine Schwestern taten. Es bestand offenbar eine große Kluft zwischen Vater und Sohn, in Bildung und Erziehung, doch wie das gekommen war, hätte ich nicht sagen können.
Allmählich legte ich mir eine gewisse Gleichgültigkeit zu, und dies ermöglichte unser Zusammenleben. Hinter Lestats spöttischem Lächeln lag stets die Andeutung, daß er großartige oder schreckliche Dinge wußte und Umgang mit Elementen der Finsternis hatte, wovon ich nichts ahnen konnte. Und immer setzte er mich herab und rügte meine Freude an Sinneseindrücken und meine Abneigung zu töten und die drohende Ohnmacht, die das Töten in mir hervorrufen konnte. Er lachte dröhnend, wenn ich entdeckte, daß ich mich im Spiegel sehen konnte und daß Kreuze keine Wirkung auf
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