Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
den Fingern über den glänzenden Spinettdeckel. ›Spielst du?‹ fragte er.
Ich sagte etwas wie ›Rühr es nicht an!‹, und er lachte mich aus.
›Ich rühre es an, wenn ich Lust habe!‹ sagte er. ›Du kennst zum Beispiel nicht alle Möglichkeiten zu sterben. Und es wäre doch so ein Jammer, wenn du jetzt sterben müßtest, nicht wahr?‹
›Es wird ja noch jemand anderen in der Welt geben, der mich diese Dinge lehren kann‹, erwiderte ich. ›Du bist bestimmt nicht der einzige Vampir. Und dein Vater ist erst an die siebzig. Du kannst noch nicht lange Vampir sein, also muß dich jemand unterwiesen haben…‹
›Und du meinst, daß du allein andere Vampire finden kannst? Sie würden dich kommen sehen, mein Freund, aber du würdest sie nicht sehen. Nein, ich glaube, du hast kaum eine andere Wahl, so wie die Dinge jetzt stehen. Ich bin dein Lehrer, und du brauchst mich und kannst nicht viel anderes machen. Und wir haben beide Leute, um die wir uns kümmern müssen. Mein Vater braucht einen Arzt, und du hast deine Mutter und Schwester. Hab bloß keine sterblichen Anwandlungen und erzähle ihnen, daß du ein Vampir bist. Du brauchst nur für sie und meinen Vater zu sorgen; das heißt, daß du dich am besten morgen nacht fleißig ans Töten machst und danach an deine Plantage. Und jetzt zu Bett. Wir werden beide im selben Zimmer schlafen; es ist weniger riskant.‹
»Nein, du kannst dir dein Schlafzimmer selber suchen‹, sagte ich. ›Ich denke nicht daran, mit dir im gleichen Zimmer zu schlafen.‹
Er wurde wütend. ›Mach keine Dummheiten, Louis. Ich warne dich. Du kannst nichts zu deinem Schutz tun, wenn die Sonne aufgeht, nichts. Getrennte Zimmer bedeuten getrennte Sicherheit, doppelte Vorkehrungen und die doppelte Möglichkeit, bemerkt zu werden.‹ Er sprach noch ein Dutzend Drohungen aus, um mich gefügig zu machen, doch hätte er ebensogut zu den Wänden reden können. Ich sah ihn aufmerksam an, aber ich hörte ihm nicht zu. Er kam mir dumm und schwach vor, wie aus trockenen Zweigen gemacht, mit einer dünnen, nörgelnden Stimme. ›Ich schlafe allein‹, sagte ich und begann, die Kerzenflammen zu löschen. ›Es ist fast Morgen!‹ sagte er beharrlich.
›So schließ dich ein‹, sagte ich, hob meinen Sarg auf die Schulter und trug ihn die Steintreppe hinunter. Ich hörte, wie die Glastüren verschlossen, die Vorhänge zugezogen wurden. Der Himmel war bleich, doch noch von Sternen übersät, und ein neuer feiner Regen wurde vom Fluß herübergeweht und sprenkelte die Fliesen. Ich ging zu meines Bruders Kapelle, schob die Rosen und Dornen beiseite, die den Eingang fast verschlossen, öffnete die Tür und setzte den Sarg auf den Steinboden vor das Betpult. Ich konnte fast die Heiligenbilder an den Wänden erkennen. ›Paul‹, sagte ich leise, ›zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich nichts für dich, nichts für deinen Tod; und zum ersten Mal fühle ich alles für dich, fühle den Schmerz deines Verlustes, so wie ich nie zuvor ein Gefühl gekannt habe.‹
Siehst du…«
Der Vampir wandte sich dem Jungen zu. »Zum ersten Mal war ich nun ganz und gar ein Vampir. Ich schloß die Holzläden vor den kleinen vergitterten Fenstern und verriegelte die Tür. Dann stieg ich in den mit Seide ausgeschlagenen Sarg - ich konnte den Glanz des Stoffes in der Dunkelheit kaum erkennen - und schloß mich selber ein. So wurde ich ein Vampir.«
U nd da waren Sie also«, sagte der Junge nach einer Pause, »mit einem anderen Vampir zusammen, den Sie haßten.« »Aber ich mußte bei ihm bleiben«, antwortete der Vampir. »Wie ich dir schon sagte, war ich ihm gegenüber sehr im Nachteil. Er wies darauf hin, daß es vieles gab, was ich nicht wußte und wissen mußte, und daß er allein es mich lehren konnte. Doch tatsächlich war das meiste davon rein praktischer Art und nicht so schwer zu begreifen. Zum Beispiel, wie wir auf einer Schiffsreise unsere Särge so transportieren lassen müßten, als enthielten sie die sterblichen Reste lieber Angehöriger, die zum Begräbnis geschickt wurden; wie niemand wagen würde, einen solchen Sarg zu öffnen, und wie wir nachts herauskommen würden, um auf dem Schiff Ratten zu jagen - alles Dinge dieser Art. Und dann kannte er Läden und Kaufleute, die uns nach den Geschäftsstunden empfingen, um uns nach der feinsten Pariser Mode auszustatten, und Agenten, die mit uns bereitwillig in Restaurants und Nachtlokalen finanzielle Transaktionen abschlössen. Und in all diesen
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