Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
Grimasse, so daß sein Gesicht wie ein Totenschädel aussah. ›Mich aus der Schule zu nehmen!‹ Er hob beide Hände und stieß einen schrecklichen Verzweiflungsschrei aus. ›Der Teufel soll ihn holen! Töte ihn!‹ sagte er.
›Nein‹, sagte ich. ›Du mußt ihm verzeihen. Oder ihn selber töten. Mach schon! Töte deinen eigenen Vater!‹
Der Greis wollte wissen, wovon wir sprachen. »Mein Sohn!‹ rief er, und Lestat tanzte herum wie das rasend gewordene Rumpelstilzchen, das seinen Fuß in den Boden stößt. Ich ging zum Fenster und konnte sehen und hören, wie die Sklaven das Herrenhaus umringten, schattenhafte Gestalten, die näher und näher kamen. ›Du warst ein Joseph unter deinen Brüdern‹, sagte der Alte. ›Der Beste von allen, doch wie sollte ich es wissen? Erst als du gegangen warst, wußte ich es, nachdem viele Jahre verflossen waren, die mir keinen Trost, keine Erleichterung geben konnten. Und dann kamst du zurück und nahmst mich von der Farm, aber das warst nicht du. Es war nicht derselbe Knabe.‹
Ich packte Lestat und zog ihn regelrecht zum Bett. Nie hatte ich ihn so schwach gesehen und zugleich so erregt. Er schüttelte mich ab, kniete vor dem Bett nieder und blickte mich finster an. Ich blieb standhaft und flüsterte: › Verzeih ihm!‹
»Es ist schon gut, Vater, sagte er mit dünner und verzerrter Stimme. »Du brauchst Ruhe. Ich hege keinen Groll gegen dich.‹
Der Alte drehte sich auf seinem Kissen, mit einem sanften Gemurmel der Erleichterung, aber Lestat war schon gegangen. In der Tür blieb er noch einmal stehen, die Hände auf die Ohren gelegt. ›Sie kommen!‹ flüsterte er und wandte sich nur so weit um, daß er mich sehen konnte. ›Töte ihn! Um Himmels willen!‹
Der Alte merkte gar nicht, was mit ihm geschah. Er ist überhaupt nicht aus seiner Ohnmacht erwacht. Ich nahm ihm nur soviel Blut ab, daß er sterben konnte, ohne daß ich meine dunkle Leidenschaft befriedigte. Diesen Gedanken hätte ich nicht ertragen können. Aber es war gleichgültig, ob man die Leiche in diesem Zustand finden würde, denn ich hatte genug von Pointe du Lac und von Lestat und von meinem Leben als reicher Plantagenbesitzer. Ich wollte das Haus in Brand stecken und mich an das Vermögen halten, das ich unter verschiedenen Namen angesammelt und für diesen Augenblick aufgespart hatte.
Inzwischen war Lestat hinter den Sklaven her. Er verbreitete so viel Tod und Zerstörung, daß sich niemand ein Bild von jener Nacht in Pointe du Lac machen konnte, und ich schloß mich ihm an. Seine Grausamkeit war schon immer unheimlich gewesen; doch nun fletschte auch ich meine Reißzähne nach den Menschenwesen, die vor mir die Flucht ergriffen, ohne in ihrer schwerfälligen, armseligen Hast der Hand des Todes oder des Wahnsinns entrinnen zu können, die sich unerbittlich auf sie legte. Und so liefen sie in allen Richtungen auseinander. Und ich eilte zurück, um Feuer an das Haus zu legen.
Lestat kam hinter mir her. ›Was machst du da!‹ rief er. ›Bist du verrückt?‹ Aber es war zu spät; die Flammen ließen sich nicht mehr löschen. ›Sie sind fort, und du vernichtest alles!‹ Vergebens lief er in dem prächtigen Salon umher, der Stätte seines früheren Glanzes. ›Hol deinen Sarg‹, sagte ich. ›Es sind noch drei Stunden bis zur Dämmerung.‹ Schon brannte das Haus lichterloh wie ein Scheiterhaufen.«
»Hätte das Feuer Ihnen etwas anhaben können?« fragte der Junge.
»Ganz bestimmt«, erwiderte der Vampir.
»Sind Sie zur Kapelle gegangen? Da waren Sie doch sicher?«
»Nein, durchaus nicht. Fünfzig bis sechzig Sklaven rannten planlos auf dem Gelände umher. Viele von ihnen waren nicht gewillt, das Leben von Flüchtlingen zu führen, und würden wahrscheinlich nach Freniére laufen oder südwärts, den Fluß hinab, zur Plantage Bel Jardin. Was mich betrifft, so hatte ich nicht die Absicht, in jener Nacht dort zu bleiben. Doch mir blieb zu wenig Zeit, mich woanders hinzuwenden.«
»Die Frau - Babette?« fragte der Junge.
Der Vampir lächelte. »Ja, ich ging zu Babette. Sie lebte jetzt mit ihrem jungen Gatten in Freniére. Ich konnte gerade noch meinen Sarg auf einen Wagen laden und zu ihr fahren.«
»Und Lestat?«
Der Vampir seufzte. »Lestat kam mit. Er wollte eigentlich nach New Orleans und versuchte, mich zu überreden, auch dorthin zu gehen. Aber dann schloß er sich mir an. Wir hätten es wahrscheinlich nicht mehr bis New Orleans geschafft, denn es wurde hell. Noch nicht so, daß
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