Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
sie bewachen. Ich werde mich um den Alten kümmern.‹
›Töte ihn‹, sagte Lestat.
»Bist du wahnsinnig? Er ist dein Vater.‹
›Ich weiß, daß er mein Vater ist. Deshalb mußt du ihn töten. Ich kann es nicht. Wenn ich dazu imstande gewesen wäre, hätte ich es schon vor langer Zeit getan, hol ihn der Teufel.‹ Er rang verzweifelt die Hände. ›Wir müssen hier heraus. Sieh nur, was du angerichtet hast! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Daniels Frau wird in wenigen Minuten angerannt kommen - oder sie schickt andere, was noch schlimmer ist.«
Der Vampir seufzte. »Lestat hatte recht. Schon konnte ich hören, wie die Sklaven sich um Daniels Hütte versammelten. Er war so mutig gewesen, sich allein in das Gespensterhaus zu wagen, und wenn er nicht zurückkehrte, würde eine Panik ausbrechen. Ich beschwor Lestat, sie zu beruhigen, alle seine Macht über sie als weißer Herr zu gebrauchen und sie nicht mit Schrecken zu verängstigen, und dann ging ich ins Schlafzimmer und schloß die Tür. Und dort packte mich neues Grauen in dieser grauenvollen Nacht. Denn nie zuvor hatte ich Lestats Vater so gesehen, wie er jetzt war.
Er hatte sich aufgesetzt und lehnte sich vor; er sprach zu Lestat, flehte Lestat an, ihm zu antworten, und beteuerte, er verstünde seine Bitterkeit besser als Lestat selber. Er war nur noch ein lebender Leichnam. Nur ein hartnäckiger Wille belebte noch seinen verfallenen Leib; die glühenden Augen waren tief im Schädel versunken, und die gelben Lippen zitterten erschreckend. Ich setzte mich ans Fußende des Bettes und nahm ergriffen von dem Anblick seine Hand. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich sein Aussehen erschütterte. Denn wenn ich Tod bringe, dann ist er rasch und dem Opfer nicht bewußt; er läßt es wie in einem seligen Schlaf zurück. Doch dies war der langsame Verfall; der Körper wollte sich nicht dem Vampir der Zeit ergeben, der schon seit Jahren an ihm gesaugt hatte. ›Lestat!‹ murmelte der Greis. ›Sei nicht hart zu mir, nur dies eine Mal. Sei noch einmal der Knabe für mich, der du warst. Mein Sohn.‹ Mehrmals wiederholte er diese Worte. ›Mein Sohn, mein Sohn‹, und dann sagte er etwas, das ich nicht genau verstehen konnte, über Unschuld und zerstörte Unschuld. Doch ich konnte sehen, daß er nicht den Verstand verloren hatte, wie Lestat behauptete; er war vielmehr in einem erschreckenden Zustand der Klarheit. Die Last der Vergangenheit bedrückte ihn mit voller Schwere; und die Gegenwart, der Tod, den er mit aller Kraft seines Willens bekämpfte, konnte jene Last nicht mildem. Mir fiel ein, ich könne ihn betrügen, wenn ich mir die Mühe gäbe, und so beugte ich mich zu ihm nieder und flüsterte ›Vater‹. Es war nicht Lestats Stimme, sondern meine, zu einem Flüstern gedämpft; doch der Greis beruhigte sich sofort, und ich dachte, nun würde er sterben. Aber er hielt meine Hand umklammert wie ein im Meer Ertrinkender, und als könne ich allein ihn retten. Nun sprach er von einem Lehrer auf dem Lande, der in Lestat einen glänzenden Schüler gefunden und den Vater beschworen hatte, ihn auf eine Klosterschule zu schicken, damit er eine bessere Erziehung erhielte. Und jetzt verfluchte sich der Alte, daß er seinen Sohn nach Hause geholt und seine Bücher verbrannt hatte. ›Du mußt mir verzeihen, Lestat‹, rief er weinend. Ich drückte ihm fest die Hand, in der Hoffnung, er würde dies als Antwort nehmen, doch er fuhr fort: ›Du hast alles, was du dir nur wünschen kannst, aber du bist so kalt und grausam wie ich damals mit der ständigen Arbeit und der Kälte und dem Hunger! Erinnere dich doch. Lestat! Du warst der Sanfteste von allen. Gott wird mir vergeben, wenn du mir vergibst.‹
Nun, gerade in diesem Augenblick kam der wahre Esau herein. Ich winkte ihm, er solle ruhig sein, aber er wollte es nicht sehen; und so mußte ich schnell aufstehen, damit nicht der Vater seine Stimme aus der Entfernung hörte. Die Sklaven waren vor ihm davongelaufen. ›Aber sie sind dort draußen‹, sagte Lestat, ›sie haben sich im Dunkeln versammelt. Ich höre sie.‹ Und dann stierte er auf den Alten. ›Töte ihn, Louis‹, sagte er zu mir, und zum erste Mal klang seine Stimme bittend. Doch wütend verbiß er es sich gleich wieder. ›Tu’s!‹
›Beuge dich über das Bett‹, sagte ich, ›und sage ihm, daß du ihm alles verzeihst, ihm verzeihst, daß er dich aus der Schule genommen hat, als du ein Knabe warst. Sag es ihm jetzt!‹
›Wozu?‹ Lestat schnitt eine
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