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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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habe.‹
    ›Mein Sohn, Gott ist unendlich in seiner Fähigkeit zu vergebene gab er zur Antwort. ›Sage es ihm, so gut du kannst und von ganzem Herzen.‹
    Und ich sagte: ›Ich habe getötet, Vater, Mord um Mord. Die Frau, die vor zwei Tagen in Jackson Square starb, ich habe sie umgebracht, und tausend andere vor ihr, jede Nacht einen oder sogar zwei, Vater, siebzig Jahre lang. Ich habe die Straßen von New Orleans heimgesucht wie der Schnitter Tod und mich von Menschenleben genährt. Ich bin kein Sterblicher, Vater, ich bin unsterblich und verdammt wie die Engel, die Gott in die Hölle verstieß. Ich bin ein Vampir.‹
    Der Priester sagte entrüstet: »Soll das ein Scherz sein? Wollen Sie sich über einen alten Mann lustig machen?‹ Er stand auf und kam hinaus, und auch ich trat aus dem Beichtstuhl. ›Haben Sie keine Gottesfurcht, junger Mann?‹ fragte er. ›Wissen Sie, was Kirchenschändung ist?‹ Jetzt standen wir uns in der leeren Kirche gegenüber; ich näherte mich ihm langsam, ganz langsam, und er starrte mich fassungslos an. Dann trat er verwirrt einen Schritt zurück. Die Kirche war leer, verlassen, düster, der Kirchendiener war gegangen, und die Kerzen warfen ein gespenstisches Licht auf den fernen Altar. Sie legten einen Kranz weicher, goldener Strahlen um sein graues Haupt und sein Gesicht. ›Dann gibt es keine Gnade!‹ sagte ich und packte ihn an beiden Schultern und hielt sein Gesicht dicht vor das meine. Er starrte mich entsetzt, mit aufgerissenem Mund an. ›Siehst du, was ich bin?‹ fragte ich. ›Wenn es einen Gott gibt, warum läßt er zu, daß es mich gibt? Und du sprichst von Kirchenschändung!‹ Er versuchte verzweifelt, sich zu befreien, grub die Nägel in meine Hände, sein Meßbuch fiel zu Boden, und sein Rosenkranz klapperte in den Falten seiner Soutane, doch er hätte ebensogut mit den steinernen Heiligen ringen können. Ich verzog die Lippen und zeigte ihm meine Fangzähne. ›Warum läßt er zu, daß ich lebe!‹ rief ich aus. Sein Gesicht versetzte mich in Wut, seine Angst, seine Verachtung, seine Entrüstung; in allem sah ich den Haß, den ich bei Babette gesehen hatte. ›Laß mich los, Teufel!‹ wisperte er in nackter, menschlicher Todesangst.
    Ich ließ ihn los und sah ihm mit grimmigem Vergnügen nach, wie er durch das Chorgestühl davoneilte, als pflüge er durch Schnee. Und dann war ich hinter ihm her, so schnell, daß ich ihn wie der Blitz umfaßte, mit meinem Umhang einhüllte und zu Boden warf. Er verfluchte mich und rief Gott an. Doch vor den Altarstufen zog ich ihn an mich und schlug die Zähne in seinen Hals.«

    Der Vampir schwieg. Schon vor einer ganzen Weile hatte der Junge sich eine Zigarette anzünden wollen, und nun saß er noch immer da mit dem Streichholz in der einen Hand, der Zigarette in der anderen, regungslos wie eine Schaufensterpuppe, und starrte sein Gegenüber an. Der Vampir blickte zu Boden. Dann nahm er dem Jungen die Streichhölzer aus der Hand und gab ihm Feuer. Der Junge tat einen tiefen Zug, stieß den Rauch aus und nahm einen Schluck aus seiner Flasche, ohne die Augen von dem Vampir zu wenden. Er wartete, bis der Vampir weitersprach.
    »Ich konnte mich an meine Kindheit in Europa nicht mehr besinnen, nicht einmal an die Überfahrt nach Amerika. Daß ich drüben geboren wurde, war nicht mehr als eine abstrakte Vorstellung, doch hielt sie mich so machtvoll in Bann, wie vielleicht nur Frankreich einen Kolonisten in Bann halten kann. Ich sprach französisch, las französische Bücher und hatte seinerzeit die Berichte über die Französische Revolution und die Siege und Niederlagen Napoleons mit brennendem Interesse verfolgt. Ich erinnere mich noch, wie es mich bekümmerte, als er Louisiana an die Vereinigten Staaten verkaufte. Wie lange der sterbliche Franzose noch in mir gelebt hatte, weiß ich nicht; er war mit der Zeit gestorben, doch in mir blieb das Verlangen, Europa zu sehen und kennenzulernen, und das kam nicht nur daher, daß ich europäische Dichter und Philosophen gelesen hatte, sondern aus dem Gefühl, daß ich von Europa tiefer und schärfer geprägt worden war als die anderen Amerikaner. Ich war von beiden Kulturen geprägt und wollte sehen, wo es angefangen hatte.
    So nahm ich also diese Sache in Angriff, räumte zunächst in meinen Schränken und Truhen auf und behielt nur, was ich unbedingt brauchte. Und das war nicht viel; das meiste konnte im Haus bleiben, denn ich würde früher oder später sicher zurückkehren. Vielleicht

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